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Sein Lächeln ging ins Leere, die Witwe blickte auf das Manuskript von Dumas.

»Nichts zu danken. Es würde mich natürlich interessieren, wie die Geschichte ausgeht.«

»Ich halte Sie auf dem laufenden ... Noch etwas. Haben Sie vor, die Sammlung Ihres Mannes zu erhalten, oder gedenken Sie, sich davon zu trennen?«

Sie sah ihn verblüfft an. Corso wußte aus Erfahrung, was passierte, wenn ein Bibliophiler starb: Vierundzwanzig Stunden nach dem Sarg verließ seine Bibliothek durch dieselbe Tür das Haus. Es wunderte ihn, daß sich noch kein Geier von der Konkurrenz hatte blicken lassen. Schließlich gab Liana Taille-fer selbst offen zu, daß sie die literarischen Neigungen ihres Gatten nicht teilte.

»Ehrlich gesagt hatte ich noch gar keine Zeit, darüber nachzudenken ... Würden Sie sich denn für diese Romane interessieren?«

»Eventuell.«

Sie zögerte einen Moment. Vielleicht zwei Sekunden länger als nötig.

»Ich muß mich erst noch mit meiner neuen Situation abfinden«, sagte sie schließlich mit einem entsprechenden Seufzer. »Lassen Sie mir ein paar Tage Zeit.«

Corso legte die Hand aufs Geländer und begann die Treppe hinunterzusteigen. Stufe für Stufe, langsam, als empfinde er ein gewisses Unbehagen, wie jemand, der das Gefühl hat, etwas vergessen zu haben. Er hatte nichts vergessen, das wußte er, aber als er den ersten Treppenabsatz erreicht hatte, sah er hoch und begegnete dem Blick von Liana Taillefer, die noch immer auf der Türschwelle stand und ihn beobachtete. Sie wirkte besorgt und zugleich neugierig, oder es schien ihm nur so. Und während er weiter hinunterstieg, rückte der Ausschnitt dessen, was er sehen konnte, langsam nach unten. Nachdem der forschende Blick ihrer stahlblauen Augen daraus verschwunden war, erschien ein letztes Mal Liana Taillefers Körper, ihr Busen, ihre Hüften, schließlich die leicht gespreizten Beine aus festem, weißem Fleisch, beeindruckend und unerschütterlich wie die Säulen eines Tempels.

Corsos Kopf drehte sich noch, als er das Hausportal durchschritt und auf die Straße hinaustrat. Es gab mindestens fünf Fragen, die nach einer Antwort verlangten und deshalb ihrer Wichtigkeit nach geordnet werden mußten. Er blieb vor dem schmiedeeisernen Tor des Retiro, des berühmten Madrider Stadtparks, stehen und blickte zufällig nach links, auf der Suche nach einem Taxi. Wenige Meter entfernt war ein riesiger Jaguar geparkt. Der Chauffeur in dunkelgrauer, fast schwarzer Livree lehnte an der Kühlerhaube und las die Zeitung. In diesem Moment sah er von dem Blatt auf und begegnete den Augen Corsos. Er war nicht mehr als eine Sekunde, in denen sich ihre Blicke kreuzten, dann wandte sich der Chauffeur wieder seiner Lektüre zu. Er hatte dunkles Haar, einen Schnurrbart, und auf einer seiner Wangen befand sich eine lange, blasse Narbe, die von oben nach unten verlief. Sein Äußeres kam Corso bekannt vor. Hatte nicht der Mann so ausgesehen, der in Makarovas Bar die Dicke am Spielautomaten abgelöst hatte? Obwohl es noch etwas anderes sein mußte. Sein Anblick weckte in Corso eine entfernte, ungenaue Erinne-rung, aber da tauchte schon ein freies Taxi auf, dem ein Typ mit Lodenmantel und Aktenköfferchen von der andern Straßenseite aus Zeichen machte. Corso nützte es aus, daß der Taxifahrer in seine Richtung sah, trat rasch vom Bordstein auf die Straße hinunter und schnappte dem andern den Wagen vor der Nase weg.

Im Wagen lehnte er sich bequem zurück, bat den Fahrer, das Radio leiser zu stellen, und sah in den Verkehr hinaus. Jedesmal, wenn er die Wagentür eines Taxis hinter sich schloß, genoß er den Frieden wie eine Waffenruhe zwischen sich und der Außenwelt. Er lehnte den Kopf zurück und betrachtete die Straße.

Es war Zeit, an ernste Dinge zu denken: wie an das Buch der neun Pforten oder an die Reise nach Portugal, die erste Etappe seiner Arbeit. Aber Corso konnte sich nicht konzentrieren. Die Begegnung mit der Witwe Enrique Taillefers hatte zu viele Fragen offengelassen, und das bereitete ihm eine seltsame Unruhe. Irgend etwas glitt ihm da aus der Hand. Und noch etwas: Es bedurfte mehrerer roter Ampeln, bis ihm klar wurde, daß das Bild des Jaguar-Chauffeurs seine Gedanken durchkreuzte. Das störte ihn gewaltig. Er wußte hundertprozentig, daß er ihn bis zu dem Moment in Makarovas Bar noch nie im Leben gesehen hatte. Aber in seinem Innern bohrte eine Erinnerung, so irrational es auch war. Ich kenne dich, sagte er sich. Da bin ich mir sicher. Irgendwann, vor langer Zeit, bin ich mal einem Typen wie dir begegnet. Und ich weiß, daß du da bist. Irgendwo, im dunklen Teil meines Gedächtnisses.

Grouchy ließ sich nirgends blicken, aber das war auch gar nicht mehr nötig. Bülows Preußen zogen sich von den Anhöhen um Chapelle-Saint-Lambert zurück, die leichte Kavallerie Suber-vies auf den Fersen. Zur linken Flanke hin, keinerlei Problem: Die roten Verbände der schottischen Infanterie boten nach dem

Überfall der französischen Kürassiere ein Bild des Jammers. Im Zentrum hatte die Division Jerömes endlich Hougoumont eingenommen. Und nördlich von Saint-Jean sammelten sich langsam, aber unerbittlich die blauen Bataillone der guten Alten Garde, während Wellington sich herrlich ungeordnet in das kleine Dorf Waterloo zurückzog. Jetzt brauchte man ihm nur noch den Gnadenstoß zu versetzen.

Lucas Corso überflog das Terrain. Die Lösung war natürlich Ney. Der Tapferste unter den Tapferen. Er stellte ihn an die Front, zusammen mit Erlon und der Division Jerömes oder was von ihr übriggeblieben war, und ließ ihn auf der Straße nach Brüssel au pas de charge vorrücken. Als sie mit den britischen Formationen in Berührung kamen, lehnte Corso sich ein wenig in den Stuhl zurück und hielt den Atem an, völlig im klaren darüber, welche Entscheidungen seine Tat zur Folge hatte: Er hatte soeben, in knapp einer halben Minute, über Leben und Tod von 22 000 Männern verfügt. Dieses Gefühl auskostend, ergötzte er sich am Anblick der kompakten, blauen und roten Glieder, am sanften Grün des Waldes von Soigne, an den braunen Flecken der Hügel. Was für eine grandiose Schlacht, bei Gott!

Der Zusammenprall war hart. Erlons Armeekorps löste sich auf wie Schnee an der Sonne, aber Ney und die Männer Jerömes behaupteten ihre Stellung. Die Alte Garde rückte vor und machte unterwegs alles dem Erdboden gleich, und die englischen Bataillone verschwanden eines nach dem andern von der Landkarte. Wellington blieb keine andere Wahl, als zum Rückzug zu blasen, und Corso versperrte ihm den Weg nach Brüssel mit der französischen Kavallerie-Reserve. Danach holte er langsam und mit Vorbedacht zum Gnadenstoß aus. Er packte Ney mit Daumen und Zeigefinger und ließ ihn drei Sechsecke auf dem Spielplan vorrücken. Dann zählte er nach, wieviel Streitkräfte dem jeweiligen Lager übrigblieben, und sah in der Tabelle nach: Das Verhältnis war acht zu drei. Wellington war erledigt. Das Schicksal ließ ihm nur mehr eine winzige Chance. Corso warf einen Blick auf die ÄquivalenzTabelle und stellte fest, daß eine Drei genügen würde. Trotzdem verspürte er einen Anflug von Nervosität, als er zu den Würfeln griff, um den entsprechenden, kleinen Schicksalsfaktor zu bestimmen. Jedenfalls kam der Faktor fünf heraus. Er lächelte, während er dem blauen Napoleon-Figürchen mit dem Nagel freundschaftlich auf die Schulter klopfte. Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst, Kamerad. Wellington und seine letzten fünftausend Unglücksraben waren tot oder gefangen, und der Kaiser hatte soeben die Schlacht von Waterloo gewonnen. Allons enfants! Die Geschichtsbücher konnten alle miteinander zum Teufel gehen.

Er gähnte ausgiebig. Neben dem Spielplan, auf dem im Maßstab 1:5000 das Schlachtfeld dargestellt war, lag zwischen diversen Nachschlagewerken, graphischen Darstellungen, einer Kaffeetasse und einem Aschenbecher voller Zigarettenstummel seine Armbanduhr auf dem Tisch und zeigte drei Uhr früh. Vom Barschrank herüber winkte Johnnie Walker ihm verschmitzt zu, während er auf seinem roten Etikett - rot wie ein britischer Uniformrock - ausschritt. >Blonder Lümmel<, dachte Corso. Ihm war es vollkommen gleichgültig, daß soeben mehrere tausend seiner Landsmänner ins flandrische Gras gebissen hatten.