»Ich bin kein Bibliophiler.«
»Natürlich. Obwohl Sie Ihre Landsknechtmanieren ziemlich gut verstecken können . Und wenn es um Bücher geht, ist das sehr beruhigend. Es gibt Hände, die geradezu kriminell mit ihnen umgehen.«
Corso blätterte weiter. Der ganze Text war lateinisch, in schöner Schrift auf starkem, hochwertigem Papier gedruckt, das sich ausgezeichnet erhalten hatte. Es gab neun wunderschöne, blattgroße Tafeln, auf denen mittelalterlich anmutende Szenen dargestellt waren. Corso schlug wahllos eine auf. Sie war mit einer lateinischen »V« versehen, die von zwei Ziffern oder Buchstaben flankiert wurde, rechts griechisch und links hebräisch. Unter dem Bild ein unvollständiges oder verschlüsseltes Wort: FR. ST. A. Und die Abbildung selbst: ein Mann, der nach einem Händler aussah, zählte vor einer verschlossenen Tür einen Sack Goldmünzen ab, ohne das Skelett zu bemerken, das hinter seinem Rücken stand, in einer Hand eine Sanduhr, in der anderen eine Heugabel.
»Was halten Sie davon?« fragte Varo Borja.
»Sie meinten doch, das Buch sei gefälscht, aber mir sieht es nicht danach aus. Haben Sie es genau untersucht?«
»Mit der Lupe und bis zum letzten Komma. Dazu hatte ich genügend Zeit, seit ich es vor einem halben fahr gekauft habe, als die Bibliothek Gualterio Terrals von seinen Erben versteigert wurde.«
Der Bücherjäger blätterte weiter. Die Bildtafeln waren von einer schlichten, geheimnisvollen Eleganz und wunderschön. Eine zeigte einen Scharfrichter in Ritterrüstung, der sein Schwert erhoben hatte und drauf und dran war, eine junge Frau zu enthaupten.
»Ich bezweifle, daß die Erben eine Fälschung zum Verkauf angeboten hätten«, schloß Corso, als er mit seiner Untersuchung fertig war. »Sie haben zu viel Geld und interessieren sich nicht für Bücher. Sogar den Katalog der Bibliothek mußte das Auktionshaus Claymore selbst zusammenstellen. Und außerdem hätte der alte Terrai, so wie ich ihn kenne, niemals ein gefälschtes oder irgendwie manipuliertes Buch in seiner Sammlung geduldet.« »Da bin ich einer Meinung mit Ihnen«, erwiderte Varo Borja. »Abgesehen davon, daß Terrai die Neun Pforten von seinem Schwiegervater geerbt hat, Don Lisardo Coy, der ein Vorbild von einem Bibliophilen war.«
»Und das Buch seinerseits dem Italiener Domenico Chiara abgekauft hat«, Corso legte den Band auf den Tisch und zog seinen Notizblock aus der Manteltasche, »dessen Familie es dem Weiss-Katalog zufolge seit 1817 besaß.«
Der Antiquar nickte zufrieden.
»Wie ich sehe, haben Sie sich gründlich mit dem Thema befaßt.«
»Natürlich habe ich mich damit befaßt.« Corso sah ihn an, als habe er soeben eine große Dummheit gesagt. »Das ist schließlich meine Arbeit.«
Varo Borja machte eine einlenkende Geste.
»Ich hege keine Zweifel an der Ehrlichkeit Terrais und seiner Erben«, stellte er klar. »Ich habe auch nicht behauptet, daß dieses Exemplar nicht alt sei.«
»Sie sagten, es sei gefälscht.«
»Gefälscht ist vielleicht nicht das richtige Wort.«
»Dann müssen Sie etwas deutlicher werden. Mir sieht es jedenfalls ganz nach einem Original aus.« Corso griff erneut nach dem Buch, packte die Schnittkanten der Seiten mit dem Daumen und ließ sie durchsausen, wobei er die Ohren spitzte und auf ihren Klang lauschte. »Sogar das Papier klingt, wie es soll.«
»Aber da ist etwas, das nicht klingt, wie es soll, und ich meine nicht das Papier.«
»Vielleicht die Holzschnitte.«
»Was ist damit?«
»Die bringen eine falsche Note ins Spiel. Normalerweise würde man Kupferstiche erwarten. 1666 hat keiner mehr Holzschnitte angefertigt.«
»Vergessen Sie nicht, daß es sich um eine ungewöhnliche Ausgabe handelt. Die Holzschnitte sind Kopien anderer, älterer Bildtafeln aus einem Buch, das der Buchdrucker Torchia entdeckt oder zumindest gesehen haben dürfte.«
»Das Delomelanicon. Glauben Sie das wirklich?«
»Ihnen kann egal sein, was ich glaube. Aber die neun Originalabbildungen des Buches werden nicht irgend jemandem zugeschrieben. Die Legende will, daß Luzifer nach seiner Niederwerfung und Vertreibung aus dem Paradies eine Sammlung von Beschwörungsformeln für seine Adepten zusammengestellt hat: den magischen Meistercodex der Schatten. Das schreckliche Buch wurde in Geheimverstecken aufbewahrt, mehrmals verbrannt und von den wenigen Privilegierten, die es besaßen, für Gold verkauft. Bei den Illustrationen handelt es sich in Wirklichkeit um infernalische Hieroglyphen. Wer sie mit Hilfe des Textes und mit dem entsprechenden Wissen zu deuten weiß, ist in der Lage, den Höllenfürsten zu rufen.«
Corso nickte mit übertriebener Würde. »Ich kenne bessere Arten, seine Seele zu verkaufen.«
»Machen Sie keine Witze. Diese Sache ist ernster, als sie aussieht ... Wissen Sie, was Delomelanicon bedeutet?«
»Ich denke ja. Das kommt aus dem Griechischen: delo, rufen. Und melas, schwarz, dunkel.«
Varo Borja bekundete ihm mit einem hysterischen Kichern seinen Beifall.
»Ich hätte beinahe vergessen, daß Sie ein gebildeter Söldner sind. Ja, Sie haben recht, die Finsternis beschwören oder sie erhellen ... Schon der Prophet Daniel, Hippokrates, Josephus Flavius und Albertus Magnus haben auf dieses herrliche Buch hingewiesen. Obwohl der Mensch erst seit sechstausend Jahren schreibt, soll das Delomelanicon dreimal so alt sein. Die erste ausdrückliche Erwähnung findet sich in dem Papyrus von Turis, der vor dreitausend Jahren abgefaßt wurde. Danach wird es im Corpus Hermeticum zwischen dem ersten vorchristlichen und dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert verschiedentlich zitiert. Dem Asclemandres zufolge ermöglicht uns dieses Buch, das Licht von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Und in einem Teilinventarium der Bibliothek von Alexandria, das vor ihrer dritten und endgültigen Zerstörung im Jahr 646 erstellt wurde, erscheint es ebenfalls, und zwar unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die neun magischen Geheimnisse, die es birgt . Man weiß nicht, ob es nur ein oder mehrere Exemplare gab, und ob eins davon den Brand der Bibliothek überlebt hat. Von diesem Zeitpunkt an tauchen seine Spuren im Verlauf der Geschichte nach Kriegen, Feuersbrünsten und Naturkatastrophen immer mal auf und dann wieder unter.«
Corso schnitt eine skeptische Grimasse. »Wie immer. Alle herrlichen Bücher haben dieselbe Legende: angefangen von Thot bis hin zu Nicolas Flamel . Ich hatte mal einen Kunden, der für die hermetische Chemie schwärmte und wollte, daß ich die von Fulcanelli und seinen Schülern erstellte Bibliographie für ihn auftreibe. Er war beim besten Willen nicht davon zu überzeugen, daß mindestens die Hälfte der darin aufgeführten Bücher überhaupt nie geschrieben worden waren.«
»Das hier aber ist geschrieben worden. Irgend etwas muß an seiner Existenz ja sein, wenn die Inquisition es auf den Index setzt. Was meinen Sie?«
»Was ich meine, ist unwichtig. Es gibt Verteidiger, die nicht an die Unschuld ihres Mandanten glauben und trotzdem seinen Freispruch durchsetzen.«
»Genau darum geht es hier. Schließlich pachte ich nicht Ihren Glauben, sondern Ihr Können.«
Corso wandte sich wieder den Holzschnitten des Buches zu. Auf dem mit der Nummer »I« war ein eigentümlicher Ritter ohne Waffen zu sehen, der den Zeigefinger an die Lippen legte, als gemahne er zum Schweigen oder wolle den Betrachter zu seinem Komplizen machen. Er war zu Pferd und ritt auf eine mauerbewehrte Stadt zu, die auf einem Hügel lag. Unter der Bildtafel las man: NEM. PERV.T QVI N.N LEG. CERT.RIT.
»Diese Legende ist durch Abkürzungen verschlüsselt, aber entzifferbar«, erklärte Varo Borja, der ihn aufmerksam beobachtete: »Nemopervenit qui non legitime certaverit...«
»Wer nicht kämpft, wie die Regeln es vorschreiben, wird nie an sein Ziel gelangen?«