»Sagt, hatte dieser Edelmann nicht eine leichte Narbe auf der Backe?« »Ja, wie von einem Streifschuß.«
Eine leichte Narbe auf der Backe. So stand es schwarz auf weiß geschrieben, aber Corso erinnerte sich an eine »große Narbe«, wie die des schwarzlivrierten Chauffeurs. Er dachte angestrengt nach, bis er schließlich laut hinauslachte. Jetzt war die Szene komplett und in Farbe: Lana Turner in den Drei Musketieren hinter einem Kutschenfenster, und ein entsprechend grimmig wirkender Rochefort: Er war nicht fahl, wie in Dumas’ Roman, sondern braungebrannt, mit einem Federhut auf dem Kopf, und hatte tatsächlich eine große Narbe, die seine rechte Wange von der Schläfe bis zum Kinn durchzog. Dann gingen seine Erinnerungen also auf einen Film zurück und nicht auf ein Buch. Corso schüttelte, verzweifelt und belustigt zugleich, den Kopf. Verdammtes Hollywood.
Aber von Filmen und Zelluloid einmal abgesehen, herrschte jetzt endlich ein wenig Ordnung in seinem Kopf. Unter einem gemeinsamen, wenn auch geheimen Notenschlüssel verbanden sich versprengte Töne zu einer rätselhaften Melodie. Die vage Unruhe, die Corso seit seinem Besuch bei der Witwe Taillefer empfand, begann konkrete Formen anzunehmen. Gesichter, Schauplätze und Gestalten zwischen dem Fiktiven und dem Realen waren auf seltsame und noch undurchsichtige Weise miteinander verknüpft: Dumas und ein Buch aus dem 17. Jahrhundert, der Teufel und Die drei Musketiere, Milady und die Scheiterhaufen der Inquisition - so absurd und romanhaft dies alles auch anmutete.
Corso löschte das Licht und ging ins Bett, aber er fand lange keinen Schlaf. Da war ein Bild, das ihm einfach nicht aus dem Sinn wollte - mit offenen Augen sah er es vor sich in der Dunkelheit schweben. Es war eine Landschaft, die Landschaft seiner Jugendlektüren, bevölkert mit Schatten, die nun, zwanzig Jahre später, die Gestalt von Gespenstern annahmen und in greifbare Nähe rückten. Die Narbe. Rochefort. Der Mann aus Meung. Der Meuchelmörder seiner Eminenz.
V. Remember
Er saß, wie ich ihn verlassen hatte,
in seinem Lehnstuhl vor dem Kamin.
A. Christie, Alibi
Ich glaube, es war wenige Tage vor seiner Abreise nach Portugal, als Corso sich zum zweitenmal an mich wandte. Wie er mir später gestand, ahnte er zu diesem Zeitpunkt bereits, daß die Neun Pforten von Varo Borja und das Dumas-Manuskript nur die Spitze eines Eisbergs waren und daß er, um hinter ihr Geheimnis zu kommen, zuerst den anderen Geschichten auf den Grund gehen mußte, die mindestens ebenso fest miteinander verknotet waren wie die Krawatte um Enrique Taillefers Hände. Das war sicher nicht einfach, da es in der Literatur nie klare Grenzen gibt. Dort baut eins auf dem anderen auf, die Dinge sind ineinander verschachtelt wie die hohlen Holzfiguren einer Babuschka, überlagern sich manchmal zu einem komplizierten Spiel zwischen den Zeilen, sogar eine Art Spiegelkabinett kann entstehen, in das sich nur die Dümmsten oder aber Selbstsichersten unter meinen Kollegen mit der Überzeugung hineinwagen, ein Tatbestand sei zweifelsfrei zu klären, eine literarische Patenschaft eindeutig festzulegen. Mancher Standpunkt ist ebenso anfechtbar wie etwa die Behauptung, Robert Ranke-Graves sei von Quo Vadis geprägt und nicht von Sueton oder Apollonios von Rhodos. Ich für meinen Teil weiß nur, daß ich nichts weiß. Und wenn ich eine bestimmte Information benötige, dann schlage ich in den Büchern nach, deren Gedächtnis nie versagt.
»Der Graf von Rochefort ist eine der wichtigsten Nebenfiguren in den Drei Musketieren«, erklärte ich Corso, als er mich zum zweitenmal aufsuchte. »Er ist ein Agent des Kardinals und Freund von Milady. Er ist aber auch der erste Feind, den d’Artagnan sich macht, und ich kann Ihnen sogar genau sagen, wann: am ersten Montag im April des Jahres 1625 in Meung-sur-Loire. Ich spreche natürlich von dem fiktiven Rochefort, obwohl in den Memoiren des echten d’Artagnan von Gatien de Courtilz eine ähnliche Gestalt unter dem Namen Rosnas auftaucht. Aber den Rochefort mit der Narbe, wie wir ihn aus den Drei Musketieren kennen, hat es in Wirklichkeit nie gegeben. Dumas entnahm diese Figur einem anderen Buch, den Mémoires de MLCDR (Monsieur le comte de Rochefort), die ebenfalls Courtilz zugeschrieben werden und wahrscheinlich apokryph sind. Ich sage wahrscheinlich, weil auch schon vermutet wurde, es handle sich um Henri-Louis de Aloigny, den Marquis de Rochefort, der ums Jahr 1625 geboren wurde. Aber das ist doch eine sehr gewagte Hypothese.«
Ich betrachtete die Lichter des Abend Verkehrs, der auf dem Boulevard vorbeifloß, draußen, vor dem Fenster des Cafés, in dem ich mich regelmäßig mit Freunden zu einem literarischen Stammtisch treffe. Wir saßen um einen Tisch voller Zeitungen, Tassen und rauchender Aschenbecher. Außer Corso und mir waren ein paar Schriftsteller gekommen, ein erfolgloser Maler und eine um so erfolgreichere Journalistin, ein Theaterschauspieler und vier oder fünf Studenten, die wie immer mucksmäuschenstill in einer Ecke hockten und mich anstarrten wie einen Halbgott. Corso saß an die Fensterscheibe gelehnt im Mantel da, trank Gin und machte sich ab und zu eine Notiz.
»Eins steht fest«, fuhr ich fort. »Der Leser, der sich durch die siebenundsechzig Kapitel der Drei Musketiere kämpft und einem Duell zwischen Rochefort und d’Artagnan entgegenfiebert, wird bitter enttäuscht. Dumas bereinigt die Angelegenheit in drei Zeilen und läßt das oder besser die Duelle einfach unter den Tisch fallen. Wenn wir Rochefort in Zwanzig fahre nachher wieder begegnen, so stellen wir nur fest, daß er sich inzwischen dreimal mit d’Artagnan geschlagen hat und ebensooft von ihm verwundet wurde - die Narben an seinem Körper sind der Beweis. Nichtsdestotrotz ist ihr gegenseitiger Haß einem heuchlerischen Respekt gewichen, wie er nur zwischen ehemaligen Feinden möglich ist. Ihr abenteuerliches Leben führt dazu, daß sie erneut in unterschiedlichen Lagern kämpfen. Aber jetzt herrscht zwischen ihnen die komplizenhafte Verbundenheit zweier Ehrenmänner, die sich seit zwanzig Jahren kennen ... Rochefort zieht sich die Ungnade Mazarins zu, entflieht aus der Bastille, ist an der Flucht des Herzogs von Beaufort beteiligt, schließt sich der Fronde an und stirbt in den Armen d’Artagnans, der ihn inmitten des Tumults nicht erkennt und mit seinem Degen durchbohrt. Das Schicksal will es so, sagt er zu dem Gascogner. Von dreien Eurer Degenstiche bin ich genesen, aber den vierten werde ich nicht überleben. Dann schließt er für immer die Augen. Ich habe soeben einen alten Freund getötet, erzählt d’Artagnan später seinem Kameraden Porthos. Mehr wird dem alten Spion Richelieus nicht auf den Grabstein geschrieben.«
Meine Erläuterungen setzten eine angeregte Diskussion in Gang. Der Schauspieler, ein alter Galan, der in einer Fernsehserie die Rolle des Grafen von Monte Christo gespielt hatte und an diesem Abend keine Sekunde lang die Journalistin aus den Augen verlor, begann, von dem Maler und den beiden Schriftstellern angefeuert, seine Erinnerungen zum besten zu geben und brillante Schilderungen der Romanfiguren zu liefern. Von Dumas kamen wir auf Zevaco und Paul Feval zu sprechen, und schließlich auf Salgari, dem wir wieder einmal das überragende Können Sabatinis gegenüberstellten. Ich erinnere mich, daß irgend jemand schüchtern den Namen Jules Verne erwähnte, aber sofort von allen ausgebuht wurde. Im Kontext leidenschaftlicher Mantel-und-Degen-Stücke, in dem wir uns bewegten, waren Vernes kalte, herzlose Helden völlig fehl am Platze.
Was die Publizistin betraf - eine jener Modejournalistinnen mit eigener Kolumne in der Sonntagsausgabe einer bekannten Tageszeitung -, so begann ihr literarisches Gedächtnis bei Milan Kundera, weshalb sie die meiste Zeit vorsichtige Zurückhaltung übte, nur dann und wann erleichtert nickte, wenn ein Titel, eine Anekdote oder eine Figur - der Schwarze Schwan, Yafiez, der Degenstich Nevers - sie an einen Film erinnerten, den sie im Fernsehen gesehen hatte. Corso dagegen betrachtete mich mit der ruhigen Ausdauer eines Jägers über den Rand seines Gin-Glases hinweg, als lauere er nur auf eine Gelegenheit, das Gespräch wieder auf sein Thema zu lenken. Und so nützte er denn auch sofort das peinliche Schweigen aus, das sich über unsere Runde legte, nachdem die Journalistin verkündet hatte, sie fände Abenteuerromane zu oberflächlich -meinen Sie nicht auch? Irgendwie seicht. Wie soll ich sagen.