Corso knabberte am Radiergummi seines Bleistifts.
»Senor Balkan, wie ist Ihrer Meinung nach die Figur Roche-forts innerhalb der Geschichte zu interpretieren?«
Die Blicke der Versammelten richteten sich auf mich und besonders die der Studenten, unter denen sich zwei Mädchen befanden. Ich weiß wirklich nicht, warum ich in bestimmten Kreisen als eine Art Bonze der schönen Künste gelte und alles andächtig verstummt, sobald ich den Mund aufmache. Egal, was ich von mir gebe, es wird aufgenommen wie ein Glaubensdogma. Ein Artikel von mir, in der entsprechenden Literaturzeitschrift veröffentlicht, kann einen jungen Schriftsteller in den Himmel heben oder für immer verdammen. Absurd, ich weiß, aber so ist das Leben. Denken Sie nur an den letzten Nobelpreisträger, den Autor von Ich, Onän, Auf der Suche nach mir selbst und des weltberühmten Oui, c ’est moi. Ich war es, der ihn vor fünfzehn Jahren, am achtundzwanzigsten Dezember, mit einem eineinhalb Seiten langen Artikel in Le Monde dem Lesepublikum vorgestellt habe - auch wenn ich mir das nie verzeihen werde.
»Am Anfang ist Rochefort der Feind schlechthin«, begann ich zu erklären. »Er symbolisiert die dunklen Mächte, das Böse ... Er steht im Zentrum des diabolischen Komplotts gegen d’Artagnan und seine Freunde, der mörderischen Ränke, die der Kardinal hinter ihrem Rücken spinnt .«
Ich sah, daß eine der Studentinnen lächelte, geistesabwesend und beinahe etwas spöttisch. Ob sie dazu meine Worte veran-laßten oder irgendwelche geheimen Gedanken, die vielleicht gar nichts mit unserem Stammtisch zu tun hatten, war nicht zu erraten. Jedenfalls überraschte mich dieses Lächeln, denn wie schon gesagt, war ich daran gewöhnt, daß man mir mit demselben Respekt zuhörte, mit dem ein Redakteur des L’Osservatore Romano den Text einer päpstlichen Enzyklika in Empfang nehmen würde, den er exklusiv bekommt. Das bewirkte, daß ich mich etwas eingehender mit ihr beschäftigte, obwohl mir ihre aufregenden grünen Augen und ihr knabenhaft kurz geschnittenes Haar schon zu Beginn aufgefallen waren, als sie sich in ihrem blauen Kapuzenmantel, einen Stoß Bücher unterm Arm, zu uns gesellt hatte. Jetzt saß sie etwas abseits von der Gruppe und hörte zu. Es gibt immer junge Leute um unseren Tisch herum, meistens Literaturstudenten, die ich zu einem Kaffee einlade, aber dieses Mädchen war noch nie erschienen. Ihre Augen konnte man unmöglich vergessen - sie waren klar, beinahe durchsichtig, und kontrastierten mit dem braungebrannten Gesicht, das auf viel Sonne und frische Luft hindeutete. Sie hatte einen schlanken, biegsamen Körper und lange Beine, die ich mir unter ihrer Jeans ebenfalls braun vorstellte. Und noch etwas fiel mir an ihr auf: Sie trug keinerlei Schmuck, weder einen Ring noch eine Uhr, noch Clips an den Ohrläppchen, die im übrigen auch nicht durchstochen waren.
»Rochefort ist aber auch der Mann, den man nie zu fassen bekommt: Kaum hat man ihn gesichtet, so taucht er schon wieder unter«, fuhr ich fort, als es mir endlich gelang, den Faden wieder aufzunehmen. »Sein Gesicht mit der Narbe könnte man als die Maske des Mysteriösen bezeichnen. Er verkörpert das Paradox, die Machtlosigkeit d’Artagnans, der ihn verfolgt, aber nie erwischt, töten möchte, das aber erst nach zwanzig Jahren schafft, überdies unbeabsichtigt, da die beiden mittlerweile keine Feinde mehr sind, sondern Freunde.«
»Dein d’Artagnan scheint das Unglück ja förmlich anzuziehen«, bemerkte einer meiner Bekannten - der ältere der beiden Schriftsteller. Von seinem letzten Roman waren nur fünfhundert Exemplare verkauft worden, dafür verdiente er aber ein Heidengeld mit Krimis, die er unter dem perversen Pseudonym Emilia Forster veröffentlichte. Ich quittierte seine treffende Bemerkung mit einem anerkennenden Blick.
»Das kann man laut sagen. Die große Liebe seines Lebens wird vergiftet. Er selbst muß sich trotz seiner Heldentaten und der unbezahlbaren Dienste, die er der französischen Krone leistet, zwanzig Jahre lang mit dem bescheidenen Rang eines Leutnants der Musketiere zufriedengeben. Und als er in den letzten Zeilen des Grafen von Bragelonne nach vier Bänden und vierhundertfünfundzwanzig Kapiteln endlich zum Marschall befördert wird, tötet ihn kurz darauf eine holländische Kugel.«
»Wie den echten d’Artagnan«, sagte der Schauspieler, der es geschafft hatte, eine Hand auf den Schenkel der Modekolumnistin zu legen.
Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee und nickte. Corso ließ mich keinen Moment lang aus den Augen.
»Es gibt drei d’Artagnans«, erklärte ich. »Vom ersten, Charles de Batz-Castelmore, wissen wir aus einem zeitgenössischen Bericht der Gazette de France, daß er am 23. Juni 1673 während der Belagerung von Maastricht einem Schuß in den Hals erlag; und wie er ist auch die Hälfte seiner Männer gefallen . Aber von seinem tragischen Ende einmal abgesehen, hatte er im Leben mehr Glück als sein fiktiver Namensvetter.«
»Kam der auch aus der Gascogne?«
»Ja, aus dem kleinen Dorf Lupiac. Dort erinnert noch heute eine Gedenktafel an ihn, auf der zu lesen steht: Hier wurde ums fahr 1615 d’Artagnan geboren, der in Wirklichkeit Charles de Batz hieß und im fahr 1673 während der Belagerung von Maastricht gefallen ist.«
»Dann haben wir es da mit einer historischen Unstimmigkeit zu tun«, stellte Corso mit einem Blick in seine Unterlagen fest. »Dumas läßt seinen Roman ums Jahr 1625 beginnen, und da ist sein d’Artagnan achtzehn. Dagegen war der historische d’Artagnan zu diesem Zeitpunkt gerade zehn.« Auch jetzt erinnerte mich Corsos skeptisches, wohlerzogenes Lächeln an ein Kaninchen. »Ein bißchen zu jung, um den Degen zu führen.«
»Ja«, gab ich zu. »Dumas hat das ein wenig hingebogen, um seinen d’Artagnan das Abenteuer mit den Diamantnadeln zur Zeit Richelieus und Ludwigs XIII. erleben zu lassen. Aber Charles de Batz muß auch sehr jung gewesen sein, als er nach Paris kam: Im Jahr 1640 wird er in Dokumenten, die sich auf die Belagerung von Arras beziehen, als Gardist in der Kompanie Des Essarts erwähnt, und zwei Jahre später taucht sein Name im Zusammenhang mit der Kampagne von Roussillon auf ... Allerdings hat er nie zur Zeit Richelieus als Musketier gedient. Dieser Elitetruppe ist er erst nach dem Tod Ludwigs XIII. beigetreten. In Wirklichkeit war er ein Günstling von Kardinal Mazarin«, berichtete ich der Tischrunde. »Zwischen dem historischen und dem fiktiven d’Artagnan gibt es also tatsächlich einen zeitlichen Sprung von zehn, fünfzehn Jahren. Im folgenden hat Dumas dann mehr Rücksicht auf die wahren Begebenheiten genommen. Sie wissen ja, daß er die Handlung der Drei Musketiere, mit denen er so erfolgreich war, später fortgeführt hat, bis sie beinahe vierzig Jahre der französischen Geschichte abdeckte.«
»Was wissen wir über den echten d’Artagnan denn nun wirklich? Ich meine an historisch abgesicherten Fakten.«
»Ziemlich viel. Sein Name wird sowohl in den Briefen Maza-rins erwähnt als auch in der Korrespondenz des Kriegsministeriums. Genau wie der Romanheld tritt er während des FrondeAufstands als Agent des Kardinals auf, mit vertraulichen Aufträgen am Hof Ludwigs XIII. Dem Briefwechsel von Madame de Sevigne ist zu entnehmen, daß er unter anderem mit der Verhaftung und Überführung des Finanzministers Fouquet betraut wurde - eine äußerst heikle Angelegenheit also. Möglich, daß er unseren Maler Velazquez kennengelernt hat, als er Ludwig XIV. auf die Fasaneninsel begleitete, wo dieser seine Verlobte Maria Theresia, die spanische Habsburgerin, abgeholt hat.«