»Demnach war er ein Höfling, wie er im Buche steht. Ganz anders als der Haudegen, den Dumas uns vorführt.«
Ich hob beschwörend die Hand.
»Lassen Sie sich vom äußeren Schein nicht trügen. Charles de Batz oder d’Artagnan war bis zu seinem Tod ein harter Kämpfer. Er hat unter Turenne den Dreißigjährigen Krieg mitgemacht und wurde 1657 zum Leutnant der grauen Musketiere ernannt, also praktisch zum Anführer dieser Abteilung. Zehn fahre später stieg er zum Hauptmann der Musketiere auf, und mit diesem Rang, der dem eines Kavallerie-Generals gleichkommt, kämpfte er in Flandern ...«
Corso, der dabei war, ein Wort oder Datum auf seinem Block zu vermerken, hielt inne und verdrehte die Augen hinter den Brillengläsern.
»Verzeihung«, sagte er, indem er sich über den Marmortisch zu mir herüberbeugte, »in welchem Jahr war das?«
»Die Beförderung zum General? 1667. Warum interessiert Sie das?«
Corso biß sich auf die Unterlippe und entblößte dabei einen Augenblick lang seine Schneidezähne. »Nur so«, antwortete er, und seine Miene war jetzt wieder völlig gelassen. »Genau im selben Jahr wurde in Rom ein gewisser Torchia verbrannt. Seltsamer Zufall ...« Er sah mich ausdruckslos an. »Sagt Ihnen der Name Aristide Torchia etwas?«
Ich dachte nach, aber es fiel mir nichts ein.
»Noch nie gehört«, erwiderte ich. »Hat der etwas mit Dumas zu tun?« Corso zögerte noch einmal kurz.
»Nein«, sagte er schließlich, obwohl er alles andere als überzeugt schien. »Ich glaube nicht. Aber fahren Sie ruhig fort. Sie haben uns gerade erzählt, daß der echte d’Artagnan in Flandern gekämpft hat.«
»Ja, und er starb, wie schon gesagt, in Maastricht an der Spitze seines Heeres. Ein wahrer Heldentod: Die Stadt wurde von Engländern und Franzosen gemeinsam belagert, und als es galt, eine gefährliche Stelle zu passieren, beschloß d’Artagnan voranzugehen, weil er sich den Verbündeten gegenüber höflich zeigen wollte ... Das hat er mit dem Leben bezahlt: Die Kugel einer Muskete traf ihn genau in die Halsschlagader.«
»Dann ist er also nie Marschall geworden.«
»Nein. Es ist ausschließlich das Verdienst Alexandre Dumas’, daß dem fiktiven d’Artagnan zugestanden wurde, was der geizige Louis XIV. seinem Vorgänger aus Fleisch und Blut verwehrt hat. Ich kenne ein paar interessante Bücher zu diesem Thema. Notieren Sie sich die Titel, wenn Sie möchten. Eins stammt von Charles Samaran: D’Artagnan, capitaine des mousquetaires du roi, histoire véridique d’un héros de roman, 1912 veröffentlicht. Das andere heißt Le vrai d’Artagnan und wurde vom Duc de Montesquiou-Fezensac geschrieben, einem direkten Nachfahren des echten d’Artagnan. Wenn ich mich nicht täusche, ist es 1963 erschienen.«
Keine dieser Einzelheiten hatte direkt etwas mit dem DumasManuskript zu tun, aber Corso notierte sie mit äußerster Gewissenhaftigkeit. Ab und zu sah er vom Blatt auf und warf mir durch seine verbogene Brille hindurch fragende Blicke zu. Dann wieder beugte er den Kopf über seinen Block und schien so tief in Gedanken zu versinken, daß er überhaupt nicht mehr zuhörte. Ich wußte damals so gut wie alles über den Vin d’Anjou, noch viel mehr, als der Bücherjäger zu diesem Zeitpunkt ahnte, aber ich hätte mir niemals vorstellen können, welch weitreichende Auswirkungen die Sache mit den Neun Pforten im folgenden auf die Geschichte haben würde. Corso, dessen Gedanken normalerweise einer strengen Logik folgten, begann dagegen schon jetzt unheimliche Bezüge herzustellen und die Realität mit der Fiktion zu verknüpfen. Was ich Ihnen hier berichte, mag alles etwas konfus erscheinen, aber vergessen wir nicht, daß die ganze Situation aus Corsos Sicht damals tatsächlich verwirrend war. Jetzt, wo ich diese Zeilen niederschreibe, gehören die dramatischen Begebenheiten, zu denen es später kommen sollte, natürlich der Vergangenheit an. Da ich mir aber vorgenommen habe, die Geschichte aus der Sicht Corsos zu erzählen, bin ich gezwungen, nach Art einer unendlichen Treppe - man denke an die Bilder M. C. Eschers -immer wieder an den Ausgangspunkt zurückzukehren und mich innerhalb der engen Grenzen zu bewegen, die Corsos Vorstellungsvermögen gesetzt waren. Wissen und schweigen, lautet die Regel. Und ohne Regeln kein Spiel, selbst wenn man ein bißchen schummelt.
»Gut«, sagte der Bücherjäger, nachdem er sich die von mir genannten Titel vermerkt hatte. »Das war also der erste d’Artagnan, der echte. Und der dritte ist der, den Dumas erfunden hat. Was vom einen zum andern überleitet, dürfte dann wohl das Buch von Gatien de Courtilz sein, das Sie mir neulich gezeigt haben: die Mémoires de M. d’Artagnan.«
»Genau. Dieser d’Artagnan ist sozusagen das Verbindungsglied, der am wenigsten bekannte von den dreien. Er existierte sowohl in der Wirklichkeit als auch in der Literatur, und ihn hat Dumas als Vorbild für seinen Romanhelden benützt. Gatien de Courtilz de Sandras war ein Zeitgenosse d’Artagnans, als Schriftsteller erkannte er das Romanhafte an dieser Gestalt und machte sich ans Werk. Einhundertfünfzig Jahre später stieß Dumas während eines Aufenthalts in Marseille auf sein Buch. Der Herr des Hauses, in dem er beherbergt wurde, hatte einen Bruder, der Vorsteher der Stadtbücherei war. Dieser hat ihm das Buch gezeigt, das im Jahr 1700 in Köln erschienen war. Dumas begriff sofort den Nutzen, den er daraus ziehen konnte, lieh es sich aus und hat es nie wieder zurückgegeben.«
»Was wissen wir über Dumas’ Vorgänger, über Gatien de Courtilz?«
»Ziemlich viel. Nicht zuletzt, weil er eine umfangreiche Akte bei der Polizei hatte. Er wurde 1644 oder 1647 geboren und war Musketier, Kornett bei der Royal-Étranger, eine Art Fremdenlegion der Zeit, und Rittmeister im Regiment von Beaupré-Choiseul. Er hat am selben Krieg teilgenommen wie d’Artagnan, nur daß dieser gefallen ist, während Courtilz nach Kriegsende in Holland blieb und den Degen gegen die Feder eintauschte, um Biographien zu verfassen, historische Essays, mehr oder weniger apokryphe Memoiren und anstößige Klatschgeschichten über den französischen Hof. Damit hat er sich dann allerdings in die Brennesseln gesetzt. Seine Memoiren des Herrn d’Artagnan waren ein richtiger Renner: fünf Auflagen in zehn fahren, aber Ludwig XIV. mißfiel die Respektlosigkeit, mit der er gewisse Details aus der Intimsphäre der königlichen Familie und ihrer Anhänger an die Öffentlichkeit zerrte. Kaum nach Frankreich zurückgekehrt, wurde Courtilz festgenommen und auf Kosten des Staates bis kurz vor seinem Tod in der Bastille einlogiert.«
Ich machte eine Pause, die der Schauspieler auf denkbar ungelegene Weise ausnützte, um ein Zitat aus Marquinas In Flandern ging die Sonne unter loszuwerden. Nichts als ein weiterer, schamloser Versuch, sich vor der Journalistin hervorzutun, deren Schenkel seine Hand bereits völlig in Besitz genommen hatte. Die anderen, besonders der Schriftsteller, der unter dem Pseudonym Emilia Forster schrieb, warfen ihm neidische oder übelwollende Blicke zu.
Nach kurzem Schweigen beschloß Corso, mich in die Kommandogewalt wiedereinzusetzen.
»Was hat Dumas’ d’Artagnan Courtilz zu verdanken?«
»Er hat ihm viel zu verdanken. Obwohl in Zwanzig Jahre nachher und im Grafen von Bragelonne auch noch andere Quellen herangezogen werden, sind die Drei Musketiere im Kern bereits völlig bei Courtilz angelegt. Dumas bringt sein Genie zur Anwendung und verleiht der Geschichte Tiefe, aber die meisten Episoden finden sich, wenigstens ansatzweise, schon bei Courtilz: der Segen, mit dem d’Artagnans Vater seinen Sohn entläßt, der Brief an Herrn de Treville, das Duell mit den Musketieren, die in der Textvorlage Brüder sind. Selbst Milady taucht schon auf. Und die beiden d’Artagnans gleichen einander aufs Haar. Der von Courtilz ist vielleicht etwas zynischer, etwas egoistischer und verschlossener, aber sonst gibt es keinen Unterschied.«