Corso beugte sich ein wenig nach vorn.
»Vorher sagten Sie, Rochefort symbolisiere das Böse, die üblen Machenschaften gegen d’Artagnan und seine Freunde. Aber Rochefort ist doch nicht mehr als ein Sbirre.«
»Ganz richtig. Ein Sbirre im Dienste seiner Eminenz, Armand Jean du Plessis, Kardinal Richelieu .«
»Der Bösewicht«, warf der Schauspieler ein, der zu allem seinen Senf dazugeben mußte. Die Studenten, die von unserem Ausflug ins Reich des Feuilletonromans ganz überwältigt waren, lauschten uns an diesem Abend mit offenem Mund oder schrieben eifrig mit. Nur das Mädchen mit den grünen Augen zeigte sich wenig beeindruckt und blieb immer ein wenig am Rande, als sei sie nur zufällig hier vorbeigekommen.
»Für Dumas«, fuhr ich fort, »gibt Richelieu - wenigstens im ersten Teil des Musketierzyklus - eine Figur ab, die in keinem romantischen Abenteuer- oder Schauerroman fehlen darf: die Figur des mächtigen Feindes, der im Trüben fischt, die Inkarnation des Bösen. Für die Geschichte Frankreichs war Richelieu ein bedeutender Mann, aber in den Drei Musketieren wird er erst zwanzig Jahre später rehabilitiert. Auf diese Weise versöhnt sich der schlaue Dumas mit der Realität, ohne den Interessen seines Romans zuwiderzuhandeln.
Er ersetzte Richelieu durch einen anderen Bösewicht: Maza-rin. Diese Retusche, die er ausgerechnet d’Artagnan und seinen Kameraden in den Mund legt, dort, wo diese postum die Größe ihres ehemaligen Feindes preisen, ist natürlich unmoralisch -für Dumas stellte sie einen bequemen Akt der Reue dar. Aber das soll uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß Richelieu im ersten Band der Trilogie perfekt die Rolle des Unholds verkörpert: Er plant die Ermordung Buckinghams, will Anna von Österreich ins Verderben stürzen und läßt der ruchlosen Milady freie Hand. Seine Eminenz, der Kardinal, ist für d’Artagnan das, was Professor Moriarty für Sherlock Holmes ist. Ein unheimlicher, diabolischer Widersacher .«
Corso unterbrach mich mit einer Geste der Hand, und das wunderte mich, denn ich begann sein Verhalten langsam zu durchschauen und hätte nicht gedacht, daß er seinem Gesprächspartner ins Wort fallen würde, bevor dieser nicht sein ganzes Wissen preisgegeben hatte.
»Sie haben zweimal das Wort diabolisch benützt«, sagte er mit einem Blick in seine Aufzeichnungen. »Und beide Male mit Bezug auf Richelieu ... War der Kardinal denn ein Anhänger des Okkultismus?«
Diese Worte schufen eine eigentümliche Situation. Das junge Mädchen hatte sich Corso zugewandt, um ihn neugierig zu betrachten. Er sah mich an und ich das Mädchen. Aber der Bücherjäger achtete nicht auf diese seltsame Dreieckskonstellation und wartete nur auf meine Antwort.
»Richelieu hatte viele Interessen«, erwiderte ich. »Während er Frankreich in eine Großmacht verwandelte, fand er nebenher noch Zeit, Gemälde, Gobelins, Porzellan und Plastiken zu sammeln. Er war auch ein bedeutender Bibliophiler, der seine Bücher in rotes Maroquin und in Kalbsleder binden ließ.«
»Und die Deckel trugen sein Wappen in Silberprägung.« Corso winkte ungeduldig ab. Das waren nebensächliche Details, die er längst wußte. »Es gibt einen berühmten Katalog von Richelieus Büchern.«
»Dieser Katalog ist aber unvollständig, weil viele Werke verlorengegangen sind. Heute werden Teile der Kollektion in der französischen Nationalbibliothek, in der Bibliothèque Mazarin und in der Sorbonne aufbewahrt; andere Bücher befinden sich in privaten Sammlungen. Richelieu besaß hebräische und syrische Handschriften, herausragende Werke der Mathematik, Medizin, Theologie, Geschichte und Jurisprudenz ... Und Sie haben mit Ihrer Frage den Nagel auf den Kopf getroffen: Was die Wissenschaftler am meisten überraschte, sind die zahlreichen alten Schriften über den Okkultismus, angefangen von der Kabbala bis hin zu Büchern über die Schwarze Magie.«
Corso schluckte, ohne mich aus den Augen zu lassen. Er wirkte gespannt wie die Saite eines Bogens, die im nächsten Moment mit einem domp zurückschnellt.
»Können Sie mir Titel nennen?«
Ich schüttelte den Kopf. Seine Hartnäckigkeit begann mich neugierig zu machen. Das Mädchen folgte unserem Gespräch immer noch aufmerksam, aber es war offensichtlich, daß sein Interesse jetzt nicht mir galt.
»Tut mir leid«, sagte ich dann.
»So weit reichen meine Kenntnisse über Richelieu leider nicht.«
»Und Dumas? War er auch ein Anhänger der Geheimwissenschaften?«
Diesmal war meine Antwort kategorisch.
»Nein. Dumas war ein Lebemann, der das Licht des Tages nicht scheute - zur Freude und Empörung seiner Bekannten, denen seine Skandale willkommenen Anlaß zum Klatsch boten. Ein bißchen abergläubisch, das ja: Er trug ein Amulett an seiner Uhrkette, glaubte an den bösen Blick und ließ sich von Madame Desbarolles weissagen. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß er irgendwo im stillen Kämmerlein Schwarze Magie betrieb. Wie er in Louis XIV et son siècle selbst berichtet, war er nicht einmal Freimaurer. Er hatte Berge von Schulden und wurde zu sehr von seinen Verlegern und Gläubigern bedrängt, als daß er Zeit verschwenden konnte. Möglich, daß er sich im Verlauf seiner Recherchen unter anderem auch mit esoterischen Themen beschäftigt hat -aber immer nur am Rande. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß er alle Freimaurer-Praktiken, die er in Joseph Balsamo und in Die Mohicaner von Paris beschreibt, direkt der Pittoresken Geschichte der Freimaurerei von Clavel entnommen hat.«
»Und Adah Menken?«
Ich betrachtete Corso mit aufrichtigem Respekt. Nur ein Fachmann konnte diese Art von Frage stellen.
»Das war etwas anderes. Adah-Isaacs Menken, seine letzte Geliebte, war eine amerikanische Schauspielerin. Während der Weltausstellung von 1867 besuchte Dumas eine Theateraufführung, und dort fiel ihm ein hübsches Mädchen auf, das auf der Bühne von einem Pferd im Galopp über den Haufen gerannt wird. Vor dem Ausgang des Theaters trat die junge Frau auf den Romancier zu, umarmte ihn und teilte ihm freiheraus mit, sie habe alle seine Bücher gelesen und sei bereit, auf der Stelle mit ihm ins Bett zu gehen. Der alte Dumas, dem schon viel weniger reichte, um sich blindlings in eine Frau zu verlieben, nahm ihre Hommage gerne an. Die Menken erzählte herum, sie sei Gattin eines Millionärs, Mätresse eines Königs und sogar Generalin irgendeiner Republik gewesen. In Wirklichkeit war sie eine amerikanische Jüdin portugiesischer Abstammung und die Geliebte eines zwielichtigen Typen, eine Mischung aus Zuhälter und Boxer. Ihr Verhältnis mit Dumas rief einen großen Skandal hervor, da sie in der Rue Malesherbes 107, Dumas’ letzter Pariser Wohnung, ein- und ausging und es liebte, sich leicht geschürzt mit ihm fotografieren zu lassen ... Sie starb mit einunddreißig Jahren nach einem Sturz vom Pferd an Bauchfellentzündung.«
»War sie Anhängerin der Schwarzen Magie?«
»Das wird berichtet. Sie schwärmte für ominöse Zeremonien und liebte es, sich mit einer Tunika zu bekleiden, Weihrauch abzubrennen und dem Höllenfürsten Opfergaben darzubringen. Manchmal behauptete sie, vom Teufel besessen zu sein, und führte sich dann in einer Weise auf, die wir selbst heute als obszön bezeichnen würden. Ich bin mir sicher, daß der alte Dumas kein Wort von alledem glaubte, aber er muß sich bei dieser Komödie köstlich amüsiert haben. Ich könnte mir vorstellen, daß die Menken im Bett sehr feurig war, wenn der Teufel sie besaß.«
Die Tischrunde quittierte meinen Witz mit schallendem Gelächter, selbst ich erlaubte mir ein zurückhaltendes Lächeln. Nur Corso und das Mädchen blieben ernst. Sie hatte ihre hellen Augen auf ihn geheftet und schien nachzudenken, während der Bücherjäger langsam mit dem Kopf nickte, obwohl er jetzt einen geistesabwesenden, fast entrückten Eindruck machte. Er sah durch das Fenster auf den nächtlichen Boulevard hinaus und schien im lautlosen Strom der Autoscheinwerfer, die sich in seinen Brillengläsern spiegelten, nach dem Zauberwort zu suchen, das all die Geschichten, die wie dürre, tote Blätter auf dem finsteren Fluß der Zeit dahintrieben, zu einer einzigen verband.