An dieser Stelle muß ich als beinahe allwissender Erzähler wieder in den Hintergrund treten und erneut den Blickwinkel Lucas Corsos einnehmen, denn Sie, lieber Leser, sollen die dramatischen Ereignisse, die im folgenden über den Bücherjäger hereinbrachen, genau so nachvollziehen können, wie er selbst sie erlebt und mir später geschildert hat.
Als Corso nach unserem literarischen Stammtisch zu Hause ankam, stellte er fest, daß der Pförtner bereits den Flur gefegt hatte und jeden Augenblick seine Portiersloge schließen würde. Der Mann kam soeben mit mehreren Müllsäcken aus dem Keller hoch, um diese auf die Straße hinauszustellen.
»Heute abend ist jemand gekommen, um Ihren Fernseher zu reparieren.«
Corso hatte genug gelesen und genügend Filme gesehen, um zu wissen, was das bedeutete, und so mußte er denn laut hinauslachen, während der Pförtner ihn verdattert ansah.
»Ich habe schon lange keinen Fernseher mehr .«
Der Portier gab konfus einen Schwall von Entschuldigungen von sich, aber Corso hörte ihm kaum zu. Wie herrlich voraussehbar auf einmal alles wurde! Da es sich um Bücher drehte, mußte er das Problem wie ein kritischer Leser angehen - mit Verstand, und nicht wie ein Konsument billiger Schundliteratur, zu dem ihn hier offensichtlich irgend jemand machen wollte. Im Grunde blieb ihm auch gar keine andere Wahclass="underline" Er war von Natur aus skeptisch, hatte einen notorisch niedrigen Blutdruck, und schon allein deshalb war es so gut wie unmöglich, daß ihm der Schweiß auf die Stirn trat oder der Ausruf: »Schicksal!« über seine Lippen kam.
»Ja, dann habe ich womöglich einen Dieb in Ihre Wohnung gelassen, Senor Corso?«
»Aber nein. Der Fernsehtechniker war dunkelhaarig, stimmt’s? Mit Schnurrbart und einer Narbe im Gesicht.«
»Genau so sah er aus.«
»Seien Sie beruhigt. Das ist ein Freund von mir, der einem gerne Streiche spielt.«
Der Pförtner atmete erleichtert auf:
»Jetzt ist mir aber ein Stein vom Herzen gefallen.«
Was die Neun Pforten und das Dumas-Manuskript betraf, konnte Corso unbesorgt sein. Wenn er sie nicht in seiner Segeltuchtasche mit sich herumtrug, dann hinterlegte er sie in Makarovas Bar - einen sichereren Ort gab es für ihn nicht. Er stieg also ruhig die Treppe hinauf und versuchte dabei, sich die kommende Szene auszumalen. Da er sich an diesem Punkt bereits in einen sogenannten »anspruchsvollen Leser« verwandelt hatte, wäre er von einer allzu platten Klischeeszene enttäuscht gewesen. Aber er beruhigte sich, sobald er die Wohnungstür aufgeschlossen hatte: kein über den Fußboden zerstreutes Papier, keine ausgeräumten Schubladen, nicht einmal aufgeschlitzte Sessel. Seine Wohnung war noch genau so, wie er sie am frühen Nachmittag verlassen hatte.
Er ging zu seinem Schreibtisch. Die Diskettenboxen waren an ihrem Platz, Papiere und Dokumente in ihren Ablagen, nichts war verrückt. Der Mann mit der Narbe, Rochefort oder wer zum Teufel er auch sein mochte, hatte saubere Arbeit geleistet. Aber alles hatte seine Grenzen. Als Corso den Computer anschaltete, erschien ein triumphierendes Lächeln auf seinem Gesicht.
DAGMAR PC 555 K (S1) ELECTRONIC PLC
19:35 THU / 3/ 21
A>ECHO OFF
A>
An diesem Tag um 19.35 Uhr zum letzten Mal benützt, versicherte der Bildschirm. Aber Corso hatte den Computer seit vierundzwanzig Stunden nicht angerührt. Um 19.35 Uhr war er mit uns im Café gewesen, während der Mann mit der Narbe den Portier anlog.
Neben dem Telefon entdeckte er noch etwas, das er im ersten Augenblick übersehen hatte - und das war weder Zufall noch eine Unvorsichtigkeit des mysteriösen Besuchers. In einem Aschenbecher fand er neben seinen eigenen Kippen den noch feuchten Stummel einer Zigarre, genauer einer Havanna, mit unversehrter Bauchbinde. Er nahm den Stummel zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete ihn, verständnislos zunächst, bis er langsam hinter seine Bedeutung kam und in hämischem Grinsen wie ein Wolf die Zähne fletschte.
Marke Monte Christo. Wie hätte es auch anders sein können.
Flavio La Ponte hatte auch Besuch bekommen. In seinem Fall war es der Klempner gewesen.
»Ich finde das überhaupt nicht witzig«, sagte er zur Begrüßung. Er wartete, daß Makarova ihnen zwei Gläser Gin brachte, und schüttete dann den Inhalt einer Cellophantüte auf den Tresen. Der Zigarrenstummel war identisch, und die Bauchbinde war ebenfalls unversehrt.
»Edmund Dantes schlägt wieder zu«, erwiderte Corso.
Aber La Ponte konnte der Sache keinen Reiz abgewinnen, so romanhaft sie auch anmuten mochte.
»Und raucht hundsteure Havannas, der verdammte Kerl.« Seine Hand zitterte so, daß ein wenig Gin an seinem Mund vorbei in den lockigen, blonden Bart floß. »Das habe ich auf meinem Nachttisch gefunden.«
Corso machte sich über ihn lustig.
»Du solltest die Dinge etwas gelassener angehen, Flavio. Wie es sich für einen harten Typen gehört.« Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Denk doch an die Harpuniere von Nantukket.«
Der Buchhändler schüttelte finster seine Hand ab.
»Ich war ein harter Typ. Und zwar bis zu meinem achten Geburtstag - da habe ich dann begriffen, daß das Überleben gewisse Vorteile mit sich bringt, und bin etwas weicher geworden.«
Corso zitierte zwischen einem Schluck und dem nächsten Shakespeare. Der Feigling stirbt tausend Tode, der Tapfere ... und so weiter. Aber La Ponte gehörte nicht zu denen, die sich mit Zitaten trösten ließen. Jedenfalls nicht mit dieser Art von Zitaten.
»Ich habe keine Angst«, sagte er nachdenklich und mit gesenktem Kopf. »Aber ich kann es nicht leiden, etwas zu verlieren ... Geld, meine unglaubliche sexuelle Potenz, das Leben.«
Corso mußte ihm recht geben - mit diesen Dingen war nicht zu scherzen. Außerdem gab es noch andere, verdächtige Indizien, wie sein Freund ihm mitteilte: seltsame Kunden, die um jeden Preis das Dumas-Manuskript haben wollten, mysteriöse Anrufe in der Nacht .
Corso horchte auf.
»Rufen sie um Mitternacht an?«
»Ja, aber sie sagen nichts, und nach einer Weile hängen sie ein.«
Während La Ponte von seinen unerfreulichen Erlebnissen berichtete, drückte der Bücherjäger seine Segeltuchtasche an sich, die ihm vor ein paar Minuten von Makarova zurückgegeben worden war. Sie hatte den ganzen Tag zwischen Getränkekisten und Bierfässern sicher unter dem Schanktisch gelegen.
»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, schloß La Ponte in tragischem Ton.
»Verkauf das Manuskript, und damit ist die Sache erledigt, bevor uns das Ganze noch über den Kopf wächst.«
Der Buchhändler schüttelte den Kopf und bestellte noch einen Gin. Einen Doppelten.
»Ich habe Enrique Taillefer versprochen, daß ich das Manuskript öffentlich versteigern würde.«
»Taillefer ist tot. Und du hast in deinem Leben noch nie ein Versprechen gehalten.«
La Ponte, der daran nicht erst erinnert zu werden brauchte, nickte traurig. Dann heiterte seine Miene sich jedoch ein wenig auf, wenigstens nahmen seine Lippen einen einfältigen Ausdruck an, der sich mit viel gutem Willen als Lächeln interpretieren ließ.
»Apropos . Rate mal, wer auch angerufen hat?«
»Milady?«
»Beinahe: Liana Taillefer.«
Corso warf seinem Freund einen unendlich müden Blick zu. Dann griff er nach seinem Gin-Glas, um es, ohne Luft zu holen, in einem einzigen, langen Zug zu leeren.