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»Gut«, hob der Ältere an. »Stellen wir uns also vor, wir hätten dieses Buch von 168 Seiten, und die Seite 100 würde fehlen ... 100 und 99 natürlich, denn schließlich hat jedes Blatt zwei Seiten. Und wir möchten diese Seite ersetzen. Das Kunststück besteht darin, einen Zwilling aufzutreiben.«

»Einen Zwilling?«

»So nennt man das im Fachjargon«, erklärte Pablo Ceniza. »Ein anderes, vollständiges Exemplar.«

»Oder eins, in dem wenigstens die beiden Seiten erhalten sind, die wir kopieren müssen. Wenn möglich, vergleichen wir auch den ganzen Zwilling mit unserem lückenhaften Exemplar, um festzustellen, ob es Unterschiede in der Drucktiefe gibt oder ob die Typen in einem abgenützter sind als im anderen ... Sie kennen das ja: Zu einer Zeit, in der die Lettern beweglich waren und sich im Handdruck schnell abnützten oder beschädigt wurden, konnten das erste und das letzte Exemplar ein und derselben Auflage unter Umständen große Unterschiede aufweisen . verbogene oder kaputte Typen, unterschiedliche Schwärzungen und ähnliches. Diese Untersuchung würde uns später in die Lage versetzen, kleine Mängel aus der einzufügenden Seite auszumerzen oder im Gegenteil anzubringen, um sie den restlichen Seiten anzugleichen ... Als nächstes würden wir eine plastische Photolithographie anfertigen. Und von dieser würden wir einen Polymer- oder Zinkabdruck machen.«

»Ein Klischee aus Kunstharz oder Metall«, sagte Corso.

»Genau. So perfekt die modernen Reprotechniken auch sind, man würde mit ihnen nie dasselbe Resultat erzielen wie mit den alten Holz- oder Bleidruckformen, also diesen charakteristischen Reliefcharakter auf dem Papier. Deshalb müssen wir die ganze Seite in formbarem Material wie Kunstharz oder Metall reproduzieren und ein Klischee herstellen, dessen technische Eigenschaften mit denen der alten Druckplatte vergleichbar sind, die 1666 aus beweglichen Lettern zusammengesetzt wurde. Dann kommt dieses Klischee in die Presse, und wir machen einen Handabzug, genau wie vor vierhundert Jahren ... Natürlich auf Papier der Zeit, das vorher und nachher mit den entsprechenden Methoden künstlich gealtert wird. Schließlich würden wir auch die Zusammensetzung der Druckfarbe eingehend studieren und sie mit chemischen Substanzen derart präparieren, daß sie mit der alten Druckfarbe identisch ist. Und damit ist das Verbrechen auch schon perfekt.«

»Was aber, wenn es kein Original der Seite gibt? Keine Vorlage, nach der die beiden fehlenden Seiten kopiert werden können?«

Die Brüder Ceniza lächelten selbstsicher und wie immer unisono.

»Dann«, erwiderte der Ältere, »wird die Arbeit erst richtig spannend.«

»Forschung und Phantasie«, fügte der andere hinzu.

»Und natürlich Wagemut, Senor Corso. Gehen wir davon aus, daß Pablo und ich dieses lückenhafte Exemplar der Neun Pforten haben. In diesem Fall verfügen wir mit den restlichen 166 Seiten über einen ganzen Katalog von Lettern und Zeichen, die der ursprüngliche Drucker benützt hat. Wir verwenden diesen Katalog als Vorlage, um ein vollständiges Alphabet zusammenzustellen. Dieses Alphabet übertragen wir dann auf Photopapier, weil das einfacher zu handhaben ist, und vervielfältigen jeden Buchstaben so oft wie es nötig ist, um die ganze Seite zu setzen. Noch kunstgerechter wäre es natürlich, die Typen aus Blei zu gießen, wie es die Drucker früher gemacht haben . Aber das ist für uns leider zu aufwendig und zu teuer. Wir müssen wohl oder übel mit den modernen Techniken vorliebnehmen. Wir schneiden also mit einer Klinge die einzelnen Buchstaben aus, und dann setzt Pablo von Hand die beiden Seiten, Zeile für Zeile, genau wie ein Setzer aus dem 17. Jahrhundert. Wenn das geschehen ist, machen wir noch einmal einen Probeabzug auf Papier, korrigieren unregelmäßige Abstände zwischen den einzelnen Buchstaben und ähnliche kleine Fehler - oder bauen im Gegenteil Mängel ein, wie sie in den Buchstaben, Linien und Seiten des Originaltextes vorkommen. Zum Schluß fertigen wir ein Negativ an und davon eine plastische Druckplatte: das endgültige Klischee.«

»Und wenn es sich bei den fehlenden Seiten um Illustrationen handelt?«

»Das ist egal. Wenn wir über die Originalzeichnung verfügen, ist das Reproduktionsverfahren sogar noch einfacher. Mit Holzschnitten wie diesen hier, deren Linien klarer sind als die von Kupferstichen oder Radierungen, läßt sich saubere Arbeit leisten.«

»Nehmen wir an, die Originalzeichnung sei verschollen.«

»Das wäre auch kein Problem. Wenn wir sie aus Beschreibungen kennen, fertigen wir sie danach an. Wenn nicht, erfinden wir sie. Natürlich nach eingehendem Studium der anderen, erhaltenen Bildtafeln. Das kann jeder bessere Zeichner.«

»Und der Druck?«

»Sie wissen ja selbst, daß Holzschnitte im Hochdruckverfahren vervielfältigt werden: Die Zeichnung wird zuerst auf einen längs der Faser geschnittenen, weiß grundierten Holzstock übertragen. Dann wird sie mit dem Messer herausgeschnitten, so daß sie erhaben stehenbleibt, eingefärbt und auf Papier abgezogen . Wer einen Holzschnitt reproduzieren will, hat zwei Möglichkeiten: Entweder er überträgt die Zeichnung auf Kunstharz, oder er arbeitet selbst mit Holz, genau wie die Künstler vor Hunderten von Jahren; in diesem Fall wird direkt vom Holzstock gedruckt . Da mein Bruder ein ausgezeichneter Holzschneider ist, würden wir nach dieser handwerklichen Methode verfahren. Kunst soll Kunst nachahmen, wo immer möglich.«

»Das ist sauberer«, warf Pablo ein.

Corso zwinkerte ihm komplizenhaft zu.

»Wie mit dem Speculum der Sorbonne.«

»Kann schon sein, daß sein oder seine Urheber dieselben Ansichten vertreten wie wir . Was meinst du, Pablo?«

»Jedenfalls waren sie Romantiker«, erwiderte der andere.

»Das mit Sicherheit.« Corso deutete auf das Buch. »Und jetzt geben Sie Ihr Urteil ab.«

»Ich würde sagen, daß es echt ist«, erwiderte Pedro Ceniza, ohne zu zögern. »Nicht einmal wir wären in der Lage, etwas so Perfektes zustande zu bringen. Sie sehen ja selbst, es stimmt alles: Qualität des Papieres, Stockflecken auf den Seiten, einheitliche Tönung, Unregelmäßigkeiten im Auftrag der Druckfarbe, Typographie . Es ist nicht ausgeschlossen, daß nachträglich fehlende Seiten eingefügt worden sind, aber ich halte das für unwahrscheinlich. Wenn das Buch gefälscht ist, dann muß es sich um eine Fälschung der Zeit handeln - das wäre die einzige Erklärung. Wieviel Exemplare sind denn bekannt? Drei? Sicher haben Sie schon die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß alle drei gefälscht sind.«

»Ja, das habe ich. Was halten Sie von den Bildtafeln?«

»Seltsam sind sie, soviel steht fest. Mit all diesen Zeichen ... Aber sie stammen auch aus derselben Zeit. Die Drucktiefe der

Klischees ist identisch. Ebenso die Druckfarbe, die Tönung des Papiers ... Vielleicht liegt der Schlüssel nicht darin, wie und wann sie gedruckt wurden, sondern in ihrer Aussage. Tut mir leid, daß wir Ihnen nicht weiterhelfen können.«

»Sie irren sich.« Corso schickte sich an, das Buch zu schließen. »In Wirklichkeit haben Sie mir sehr viel weitergeholfen.«

Pedro Ceniza hielt ihn zurück.

»Noch etwas, obwohl Ihnen das bestimmt schon aufgefallen ist: die Zeichen des Holzschneiders.«

Corso sah ihn verwirrt an.

»Ich verstehe nicht . Was meinen Sie?«

»Die mikroskopisch kleinen Signaturen am Fuß einer jeden Abbildung ... Zeig du sie ihm, Pablo.«

Der jüngere Bruder rieb sich die Hände an seinem Staubmantel, als wären sie verschwitzt, was jedoch unmöglich war. Dann beugte er sich mit der Lupe über die Neun Pforten und zeigte Corso ein paar Seiten.

»Jeder Holzschnitt«, erklärte er ihm, »ist mit den üblichen Abkürzungen versehen: inv. für invenit mit den Initialen des Malers, von dem der Entwurf stammt, und sculp. für sculpsit -der Holzschneider . Schauen Sie her: Auf sieben der neun Bildtafeln kommt die Abkürzung A. Torch. als sculp. und inv. vor. Somit ist klar, daß der Drucker selbst sieben Bildtafeln entworfen und geschnitten hat. Aber auf den anderen beiden taucht er nur als sculp. auf. Das heißt also, daß er diese nur geschnitten hat. Und daß der Autor der Originalzeichnungen, der inv., ein anderer war: jemand mit den Namensinitialen L. E«