Выбрать главу

VII. Nummer eins und Nummer zwei

Der Teufel kann sehr schlau sein, und mitunter ist er gar nicht so häßlich, wie man gemeinhin von ihm behauptet.

J. Cazotte, Der verliebte Teufel

Es fehlten wenige Minuten bis zur Abfahrt des Expreßzuges nach Portugal, als er das Mädchen sah. Corso stand auf dem Trittbrett seines Schlafwagens - Companhia Internacional de Carruagems-Camas -, als sie in einer Gruppe von Reisenden, die zu den Erste-Klasse-Waggons unterwegs waren, an ihm vorüberging. Sie hatte einen kleinen Rucksack auf der Schulter und trug denselben blauen Kapuzenmantel, aber er erkannte sie nicht sofort. Nur ihre grünen Augen, die hell, beinahe durchsichtig waren, und ihr extrem kurz geschnittenes Haar kamen ihm bekannt vor. Er sah ihr nach, bis sie zwei Wagen weiter vorn verschwand. Die Lokomotive pfiff, und während er einstieg und der Schaffner hinter ihm die Tür schloß, rekonstruierte er die Szene: Boris Balkans literarischer Stammtisch im Café und sie, die am Ende des Tisches saß.

Er ging den Korridor entlang auf sein Abteil zu. Die Lichter des Bahnhofs flogen im Takt der ratternden Räder immer schneller vor den Fenstern vorbei. In dem engen Abteil konnte man sich kaum bewegen, so daß er nur Mantel und Jacke auf einen Bügel hängte und sich dann mit seiner Segeltuchtasche aufs Bett setzte. Die Tasche enthielt neben den Neun Pforten und dem Dumas-Manuskript das Memorial von St. Helena des Comte de Les Cases:

Freitag, 14. Juli 1816. Der Kaiser hat die ganze Nacht gelitten ...

Corso zündete sich eine Zigarette an. Wenn der Zug beleuchtete Stellen passierte und sein Gesicht wie von einem Blitz erhellt wurde, warf er manchmal einen Blick aus dem Abteilfenster, bevor er sich wieder in die langsame Agonie Napoleons und die ausführlich geschilderten Quälereien seines englischen Kerkermeisters, Sir Hudson Löwe, versenkte. Er las mit gerunzelter Stirn und rückte sich immer wieder die Brille auf der Nasenwurzel zurecht. Dann und wann hielt er einen Moment inne, um sein Spiegelbild im Fenster zu betrachten und eine spöttische Grimasse zu schneiden, die ihm selber galt. Bei all dem, was er bereits erfahren und erlebt hatte, war er immer noch in der Lage, Empörung über das schändliche Ende zu empfinden, das die Sieger dem gestürzten Titanen bereitet hatten - auf einen Felsbrocken inmitten des Atlantiks verbannt. Wie seltsam es war, das alles - die historischen Begebenheiten und seine eigenen Gefühle ihnen gegenüber - aus der heutigen Sicht eines Erwachsenen zu revidieren. Es schien ihm, als sei eine Ewigkeit vergangen, seit er, der andere Lucas Corso, das Kind, das die Mythen der Familie mit kriegerischem Enthusiasmus übernahm, der frühreife Bonapartist, ehrfurchtsvoll den Säbel des Veteranen von Waterloo bewundert und gierig Bücher verschlungen hatte, die mit Kupferstichen der glorreichen Feldzüge illustriert waren . Feldzüge, deren Namen wie Trommelwirbel klangen: Wagram, Jena, Smolensk, Marengo. Die geweiteten Augen, die ihn aus der Ferne anblickten, gehörten einem schemenhaften Wesen, das manchmal aus seinem Gedächtnis aufstieg, zwischen den Seiten eines Buches, bei einem Geruch oder Klang, auf einer dunklen Fensterscheibe, wenn draußen in der Nacht der Regen prasselte.

Draußen ging ein Angestellter des Speisewagens vorbei und läutete mit einem Glöckchen. Corso klappte das Buch zu, zog seine Jacke an, hängte sich die Segeltuchtasche über die Schulter und verließ das Abteil. Am Ende des Korridors, nach der Pendeltür, empfing ihn der Faltenbalg zwischen seinem Waggon und dem nächsten mit einem kalten Luftzug. Er hörte die Puffer unter sich ächzen, während er ihn rasch durchquerte und in den Wagen mit den Erste-Klasse-Sitzabteilen hinüberging. Dort mußte er im Gang kurz stehenbleiben, um zwei Reisende vorbeizulassen, und dabei fiel sein Blick in das nächstgelegene Zugabteil, das nur zur Hälfte besetzt war. Das Mädchen saß neben der Tür, in Jeans und Pullover, die nackten Füße auf den gegenüberliegenden Sitz gestellt. Als Corso vorüberging, hob sie die Augen von dem Buch, das sie gerade las, und ihre Blicke kreuzten sich. Da ihre Augen jedoch durch nichts verrieten, daß sie ihn erkannte, ließ er die Hand, die er instinktiv zum Gruß gehoben hatte, schnell wieder sinken. Das junge Mädchen mußte seine Geste bemerkt haben, denn sie sah ihn neugierig an, aber der Bücherjäger hatte seinen Weg bereits fortgesetzt.

Vom Schaukeln des Zuges gewiegt, aß er zu Abend und fand gerade noch Zeit, einen Kaffee und ein Glas Gin zu trinken, bevor das Restaurant schloß. Am Ende der Nacht ging in rohseidenen Tönen der Mond auf, und die im Schatten liegende Hochebene vor dem Fenster wurde von den vorbeihuschenden Telefonmasten in die verschwommenen Einzelbilder eines Filmes unterteilt, die man im Gegenlicht eines Projektors betrachtet.

Auf dem Rückweg in sein Abteil traf er im Gang der ersten Klasse auf das Mädchen. Sie hatte die Arme auf den Rahmen des geöffneten Fensters gestützt und ließ sich den kalten Fahrtwind ins Gesicht wehen. Corso hatte sich gerade zur Seite gedreht, um sich in dem schmalen Korridor an ihr vorbeizuzwängen, da sah sie ihn an.

»Wir kennen uns«, sagte sie.

Aus der Nähe betrachtet, wirkten ihre Augen noch grüner und heller - wie aus Flüssigkristall. Zu diesem Effekt kam es vor allem durch den Kontrast mit ihrem sonnenverbrannten Gesicht, und daß sie Ende März bereits so braun war und das Haar streichholzkurz und mit Seitenscheitel trug, verlieh ihr ein ungewöhnliches, sportliches und sympathisch jungenhaftes Aussehen. Sie war groß, schlank, geschmeidig. Und sehr jung.

»Stimmt«, bestätigte Corso. »Vor zwei Tagen ... im Café.«

Sie lächelte, und auch ihre blitzweißen Zähne kontrastierten mit der dunklen Haut. Ihr Mund war groß und schön gezeichnet. Hübsches Mädchen, hätte Flavio La Ponte gesagt und sich den lockigen Bart gekrault.

»Sie waren der, der sich für d’Artagnan interessiert hat.«

Der kalte Wind, der zum offenen Fenster hereinblies, zerzauste ihr Haar. Sie war immer noch barfuß. Ihre weißen Tennisschuhe standen auf dem Boden des Abteils. Corso warf instinktiv einen Blick auf den Titel des Buches, das auf ihrem Sitz lag: Die Abenteuer des Sherlock Holmes - eine billige Taschenbuchausgabe.

»Sie werden sich einen Schnupfen holen«, sagte er.

Das Mädchen schüttelte immer noch lächelnd den Kopf, kurbelte aber trotzdem die Fensterscheibe hoch. Corso beschloß, eine Zigarette herauszuziehen, bevor er seinen Weg fortsetzte. Er tat es wie immer, direkt von der Jackentasche in den Mund, und merkte, daß sie ihn dabei beobachtete.

»Rauchen Sie?« fragte er und hielt zögernd inne.

»Manchmal.«

Er klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen und kramte eine zweite hervor. Sie war schwarz, filterlos und zerknittert wie alle, die er mit sich herumtrug. Das Mädchen nahm sie entgegen und las die Marke, bevor sie sich von Corso mit dem letzten Streichholz seiner Schachtel und nach ihm Feuer geben ließ.

»Die ist stark«, sagte sie, nachdem sie zum erstenmal daran gezogen hatte, aber der von Corso erwartete Hustenanfall blieb aus. Ihre Art, die Zigarette zu halten, war ungewöhnlich: mit Daumen und Zeigefinger, die Glut nach außen. »Reisen Sie in diesem Wagen?«

»Nein. Im nächsten.«

»Schön, sich einen Schlafwagen leisten zu können.« Sie klopfte sich auf die hintere, leere Hosentasche, als Zeichen, daß sie nicht besonders gut bei Kasse war. »Das würde ich auch gerne. Ein Glück, daß mein Abteil nur halb besetzt ist.«

»Sind Sie Studentin?«

»So etwas Ähnliches.«

Der Zug fuhr donnernd und vibrierend in einen Tunnel, und das Mädchen drehte sich zum Fenster, als ziehe es die Finsternis dort draußen an. Gespannt und wachsam drückte sie sich gegen ihr eigenes Spiegelbild an die Scheibe und lauschte in das Getöse des engen Schachts hinaus. Als der Zug dann wieder im Freien war und kleine Lichter über kurze Strecken hinweg die Nacht sprenkelten, lächelte sie gedankenversunken.