»Ich mag Züge«, sagte sie.
»Ich auch.«
Das Mädchen sah immer noch zum Fenster hinaus. Eine ihrer Hände berührte mit den Fingerspitzen die Scheibe.
»Was halten Sie davon: Paris bei Nacht verlassen ... Morgens mit Blick auf die Lagune von Venedig aufwachen, und dann weiter nach Istanbul?« Ihr Lächeln wirkte jetzt verträumt, als hänge sie geheimen Erinnerungen nach.
Corso schnitt eine Grimasse. Wie alt mochte sie sein? Achtzehn, wenn es hochkam zwanzig.
»Poker spielen«, schlug er vor, »zwischen Calais und Brindisi.«
Das Mädchen faßte ihn aufmerksamer ins Auge.
»Auch nicht schlecht.« Sie dachte kurz nach. »Wie fänden Sie ein Champagnerfrühstück zwischen Wien und Nizza?«
»Interessant. Wie Basil Zaharoff hinterher spionieren.«
»Oder sich mit Nijinsky betrinken.«
»Coco Chanels Perlen stehlen.«
»Mit Paul Morand flirten ... Oder mit Mister Barnabooth.«
Sie lachten beide. Corso wie immer mit zusammengebissenen Zähnen, das Mädchen offen heraus, seine Stirn an die kühle Fensterscheibe gelehnt. Sie hatte ein frisches, klangvolles Jungenlachen, das gut zu ihrem kurzgeschnittenen Haar und den leuchtendgrünen Augen paßte.
»Solche Züge gibt es nicht mehr«, sagte sie.
»Ich weiß.«
Wie Blitze zischten die Lichter eines Signals vorbei. Es folgte ein schlecht beleuchteter, menschenleerer Bahnsteig; das Ortsschild war bei der Geschwindigkeit nicht zu lesen. Hier und da zeichnete sich ein Baum oder Häuserdach im nackten Schein des Mondes ab, der neben dem Zug herzufliegen schien
- ein verrückter Wettlauf ohne Ziel.
»Wie heißen Sie?«
»Corso. Und Sie?«
»Irene Adler.«
Er musterte sie von oben bis unten, und sie hielt seiner Prüfung gelassen stand.
»Das ist kein Name.«
»Corso auch nicht.«
»Da irren Sie sich. Ich bin Corso - der Mann, der rennt.«
»Mir wirken Sie aber gar nicht hastig ... eher ruhig.«
Corso neigte den Kopf, ohne zu antworten, und betrachtete die nackten Füße des Mädchens auf dem Teppichboden des Korridors. Dabei fühlte er ihren forschenden Blick, der an ihm hinabglitt, und das machte ihn etwas verlegen, so seltsam das in seinem Fall auch klingen mag. Zu jung, sagte er sich. Zu attraktiv. Mechanisch rückte er sich die verbogene Brille zurecht und schickte sich an weiterzugehen.
»Gute Reise.«
»Danke.«
Er setzte sich in Bewegung und wußte, daß sie ihm nachsah.
»Vielleicht sehen wir uns mal wieder«, hörte er sie hinter seinem Rücken sagen.
»Vielleicht.«
Nein, so ging es nicht. Der Corso, der da den Rückzug antrat, war ein anderer. Er fühlte sich ungemütlich, die Grande Armée war auf dem besten Wege, sich im Schnee aufzulösen, das brennende Moskau knisterte unter seinen Stiefeln. So durfte er nicht türmen. Er blieb also stehen, drehte sich auf dem Absatz um und verzog sein Gesicht zu einem Wolfsgrinsen.
»Irene Adler«, wiederholte er und tat, als denke er nach. »Eine Studie in Scharlachrot?«
»Nein«, entgegnete das Mädchen ruhig. »Ein Skandal in Böhmen.« Sie lächelte jetzt auch, und ihre Augen waren ein smaragdgrüner Strich in dem dämmrigen Zugkorridor. »Die Frau, lieber Watson.«
Corso schlug sich mit der Hand auf die Stirn, als habe er plötzlich begriffen.
»Elementar«, sagte er und war sich nun sicher, daß sie sich wiederbegegnen würden.
Corso hielt sich nicht mehr als fünfzig Minuten in Lissabon auf, gerade so lange, wie nötig war, um vom Bahnhof Santa Apolonia zum Rossio-Bahnhof zu kommen. Eineinhalb Stunden später setzte er den Fuß auf den Bahnsteig von Sintra. Tiefhängende Wolken überzogen den Himmel und verschleierten die melancholischen grauen Türme des Castelo da Pena, das vom Berg herabsah. Da er weit und breit kein Taxi erblik-ken konnte, ging er zu Fuß zu dem kleinen Hotel hinauf, das genau gegenüber dem Königspalast mit seinen zwei riesigen Schornsteinen lag. Es war zehn Uhr, ein Mittwochvormittag, und auf der Esplanade gab es weder Touristen noch Autobusse. Corso bekam problemlos ein Zimmer mit Blick auf die zerklüftete, üppig grüne Landschaft, aus der inmitten von hundertjährigen, efeuüberwucherten Gärten die Dächer und Türme alter Landhäuser - der Quintas - aufragten. Er duschte, trank einen Kaffee und ließ sich dann von der Dame an der Rezeption den Weg zur Quinta da Soledade beschreiben, die weiter oben am Berg lag. Auf der Esplanade gab es keine Taxis, wohl aber ein paar Pferdekutschen. Corso handelte den Preis aus, und wenige Minuten später fuhr er an der Torre da Regaleira mit ihrem neumanuelinischen Maßwerk vorbei. Die Hufe des Pferdes hallten in den dunklen, hohlen Gassen, die von Brunnen und dünnen Rinnsalen gesäumt wurden. Dichter Efeu rankte sich an Häuserwänden, Fenstergittern, Baumstämmen empor und an den moosbedeckten, mit alten Kacheln verkleideten Steintreppen der verlassenen Villen.
Die Quinta da Soledade war ein langgestrecktes Gebäude aus dem 18. Jahrhundert mit vier Kaminen und verblichener ockerfarbener Fassade. Corso kletterte aus der Kutsche und versenkte sich einen Moment lang in den Anblick, bevor er das schmiedeeiserne Tor öffnete. Die Gartenmauer wurde rechts und links von Granitsäulen abgeschlossen, auf denen schimmelüberzogene Skulpturen aus graugrünem Stein standen. Bei einer von ihnen handelte es sich um eine weibliche Büste, die andere schien mit dieser identisch zu sein, obwohl ihr Gesicht nur zu erahnen war - der Efeu hatte es wie ein lästiger Parasit befallen und beinahe unkenntlich gemacht.
Totes Laub raschelte unter seinen Sohlen, während er auf das Haus zuschritt. Die Marmorstatuen, die den Weg früher einmal flankiert hatten, lagen fast alle zerbrochen neben ihren Sockeln. Der Garten war völlig verwahrlost, von der Vegetation überwuchert, die alles unter sich begrub. Bänke und Aussichtsterrassen, deren rostige Geländer auf die bemoosten Steinböden abfärbten. Auf der linken Seite sah er neben einem Teich voller Wasserpflanzen einen gekachelten Brunnen mit einem pausbäckigen Puttchen, das den Kopf zum Schlaf auf ein Buch gelegt hatte. Die Augen waren ausgehöhlt, die Hände verstümmelt, und aus dem halb geöffneten Mund tröpfelte Wasser. Die ganze Atmosphäre war von einer unendlichen Traurigkeit durchtränkt, der Corso sich nicht entziehen konnte. >Quinta da Soledadec, wiederholte er bei sich, >Villa der Einsamkeit. Der Name paßte.
Er stieg die Steintreppe zum Eingang hinauf und hob dabei die Augen. Zwischen seinem Kopf und dem grauen Himmel war eine Sonnenuhr mit römischen Ziffern auf die Fassade gemalt, die keine Zeit anzeigte; darunter eine lateinische Inschrift: Omnes vulnerant, postuma necat.
»Alle verletzen«, las Corso, »die letzte tötet.«
»Sie kommen gerade richtig«, sagte Fargas. »Zum Zeremoniell.«
Corso reichte ihm ein wenig verwirrt die Hand. Victor Fargas war groß und hager wie ein Edelmann von El Greco. In seinem weiten Pullover aus grober Wolle bewegte er sich wie eine Schildkröte in ihrem Panzer. Er hatte einen penibel zurechtgestutzten Schnurrbart und trug eine Hose mit ausgebeulten Knien, sowie altmodische, abgenützte Schuhe, die jedoch sauber glänzten. Das war es, was Corso auf den ersten Blick wahrnehmen konnte, bevor seine Augen in das riesige, leere Haus wanderten, über die nackten Wände, die Deckenmalereien, die sich in Schimmellagunen auflösten und von feuchtem Gips verschluckt wurden.
Fargas musterte seinen Besucher kritisch.
»Ich nehme an, daß Sie ein Glas Cognac nicht ablehnen wer-den«, sagte er schließlich, als wäre er nach eingehender Überlegung zu diesem Schluß gelangt. Dann entfernte er sich mit hinkendem Gang, ohne sich darum zu kümmern, ob Corso ihm durch den Korridor folgte oder nicht. Die Zimmer, an denen sie vorbeikamen, waren entweder leer oder mit Resten von unbrauchbaren Möbeln ausgestattet, die man in den Ecken zusammengerückt hatte. Von den Decken hingen nackte Fassungen, zum Teil mit staubigen Glühbirnen.