Die einzigen Räume, die einen halbwegs bewohnten Eindruck machten, waren zwei Salons, die eine Schiebetür miteinander verband. Die Tür, in deren Glasscheiben ein Wappen eingeschliffen war, stand offen und zeigte kahle Wände. Die Gegenstände, mit denen sie einst bedeckt gewesen waren, hatten ihre Spuren auf der alten Tapete hinterlassen: rechteckige Umrisse von verschwundenen Gemälden, Abdrücke von Möbeln, verrostete Nägel, Stromanschlüsse für nicht mehr vorhandene Lampen. Die ganze traurige Landschaft wurde von einem gemalten Himmelsgewölbe überspannt, in dessen Zentrum die Opferung Isaaks dargestellt war: Ein abgeblätterter Engel mit riesigen Flügeln hielt die Hand des Patriarchen Abraham fest, der dabei war, mit dem Messer auf einen blonden Jüngling loszugehen. Unter dem falschen Gewölbe öffnete sich auf die Terrasse und den hinteren Teil des Gartens hinaus eine schmutzige Fenstertür, deren Scheiben teilweise durch Kartonstücke ersetzt worden waren.
»Home, sweet home«, sagte Fargas.
Der ironische Ton, den er dabei anschlug, klang nicht sehr überzeugend. Wahrscheinlich hatte der Hausherr diesen Spruch schon so oft benützt, daß er selbst nicht mehr an seine Wirkung glaubte. Er sprach spanisch mit einem vornehmen, portugiesisch gefärbten Akzent. Seine Bewegungen waren sehr langsam, wie die eines Menschen, der eine Ewigkeit vor sich hat, aber das lag vielleicht an seinem invaliden Bein.
»Cognac«, wiederholte er, als wolle er sich ins Gedächtnis rufen, was ihn hierher geführt hatte.
Corso nickte leicht mit dem Kopf, ohne daß Fargas ihn sah. Der geräumige Salon wurde auf der anderen Seite von einem riesigen Kamin abgeschlossen, in dem ein kleiner Stoß Holzscheite angeordnet war. Das Mobiliar bestand aus zwei ungleichen Sesseln, einem Tisch und einer Kredenz. Des weiteren gab es eine Petroleumlampe, zwei Kerzenleuchter, eine Violine im geöffneten Kasten und wenig mehr. Auf dem Boden jedoch lagen, auf ausgefransten Teppichen und verblichenen Gobelins, so weit wie möglich von den Fenstern und dem bleifarbenen Tageslicht entfernt, säuberlich angeordnet, Hunderte von Büchern. Fünfhundert oder mehr, schätzte Corso. Vielleicht auch tausend. Darunter zahlreiche alte Handschriften und Inkunabeln. Wertvolle leder- oder pergamentgebundene Stük-ke, alte Exemplare mit Ziernägeln auf den Deckeln, Foliobände, Elzeviers, Einbände mit Fileten, Rosetten und Schließen, Bücher, deren Rücken und Kanten mit goldenen Lettern verziert oder in den Schreibstuben mittelalterlicher Klöster kalligraphisch ausgestaltet worden waren. Des weiteren fiel Corso auf, daß wohl ein Dutzend Mausefallen über die Zimmerecken verteilt waren, die meisten ohne Käse.
Fargas, der an der Kredenz herumhantiert hatte, kam mit einem Glas und einer Flasche Remy Martin zurück, die er gegen das Licht hielt, um ihren Inhalt zu überprüfen.
»Goldener Nektar der Götter«, sagte er in feierlichem Ton. »Oder des Teufels.« Er lächelte nur mit dem Mund, indem er wie die alten Filmgalane den Schnurrbart verzog, aber sein Blick blieb starr und ausdruckslos. Unter seinen Augen hingen schwere Tränensäcke wie nach unzähligen schlaflos verbrachten Nächten. Corso betrachtete seine feingliedrigen, aristokratischen Hände, während er aus ihnen das Cognac-Glas entgegennahm, dessen dünnes Kristall leicht vibrierte, als er es an die Lippen führte.
»Hübsches Glas«, meinte er, um irgend etwas zu sagen.
Der Büchersammler nickte mit einer resignierten und zugleich selbstironischen Miene, die alles in ein neues Licht rückte: das Glas, die nahezu leere Flasche, das geplünderte Haus, ja seine eigene Präsenz inmitten dieser Umgebung, ein vornehmes, blasses, abgetakeltes Gespenst.
»Mir sind nur noch zwei von der Sorte geblieben«, gestand er nüchtern und gelassen. »Deshalb bewahre ich sie auf.«
Corso lächelte verständnisvoll. Sein Blick schweifte kurz über die leeren Wände, um dann wieder zu den Büchern auf dem Boden zurückzukehren.
»Diese Quinta muß einmal prächtig gewesen sein«, sagte er.
Fargas zuckte mit der Schulter.
»Ja, das war sie. Aber mit den alten Familien ist es wie mit den Hochkulturen - irgendwann sterben sie aus und gehen unter.« Er blickte sich gedankenverloren um, und in seinen Augen schienen sich die Gegenstände zu spiegeln, die den Raum einst geschmückt hatten. »Zuerst ruft man die Barbaren, damit sie den Limes bewachen, dann bereichert man sie, und zum Schluß macht man sie zu seinen Gläubigern . Bis sie sich eines Tages erheben, über einen herfallen und einen ausrauben.« Er sah sein Gegenüber in einem Anfall von Mißtrauen an. »Ich hoffe, Sie verstehen, wovon ich spreche.«
Corso nickte und setzte das mitfühlendste Kaninchenlächeln seines gesamten Repertoires auf.
»Ich verstehe Sie bestens«, bestätigte er. »Landsknechtsstiefel, die auf Meißener Porzellan herumtrampeln. Meinen Sie das? Putzfrauen in Abendkleidern. Neureiche Tagelöhner, die sich den Hintern mit alten Handschriften abwischen.«
Fargas machte eine zustimmende Handbewegung und lächelte zufrieden. Dann hinkte er zu der Kredenz, um das zweite Glas zu holen.
»Ich glaube, ich trinke auch einen Cognac«, sagte er.
Sie stießen schweigend miteinander an und sahen sich dabei in die Augen wie die Brüder eines Geheimbundes, die soeben das Erkennungsritual vollzogen haben. Dann deutete der Bibliophile mit der Hand, in der er das Glas hielt, einladend auf die Bücher, als erlaube er Corso nun, wo er die Initiationsprobe bestanden hatte, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten und sich ihnen zu nähern.
»Da liegen sie. Achthundertvierunddreißig Bände, von denen nur noch knapp die Hälfte wirklich wertvoll ist.« Er nippte an seinem Glas, bevor er mit dem Zeigefinger über seinen feuchten Schnurrbart fuhr und seine Augen im Zimmer umherwandern ließ.
»Jammerschade, daß Sie sie nicht in besseren Zeiten erlebt haben, als sie sauber aneinandergereiht in ihren Zedernholzregalen standen ... Ich hatte fünftausend Exemplare beisammen. Das hier sind die Überlebenden.«
Corso, der seine Segeltuchtasche auf den Boden gelegt hatte, trat auf die Bücher zu. Er spürte, wie seine Fingerspitzen aus purem Reflex zu kribbeln begannen. Der Anblick war herrlich. Er rückte seine Brille zurecht und sichtete auf den ersten Blick einen Vasari im Quartformat, Erstausgabe von 1588, und einen pergamentgebundenen Tractatus von Berengario de Carpi, aus dem 16. Jahrhundert.
»Ich hätte mir nie vorgestellt, daß die in sämtlichen Bibliographien zitierte Fargas-Sammlung so aussieht: Bücherstapel auf dem Boden, ohne Schränke, einfach an die Wand gerückt, in einem leeren Haus .«
»So ist das Leben, mein Freund. Aber ich muß Ihnen zu meiner Entlastung sagen, daß sich alle in ausgezeichnetem Zustand befinden . Ich selbst säubere und überwache sie - ich lüfte regelmäßig das Zimmer und schütze sie gegen Ungeziefer und Mäuse, gegen Licht, Hitze und Feuchtigkeit. Und das beschäftigt mich den ganzen Tag.«
»Was ist aus dem Rest geworden?«
Der Bibliophile sah mit gerunzelter Stirn zum Fenster hinaus und schien sich dieselbe Frage zu stellen.
»Tja ...«, erwiderte er und wirkte sehr unglücklich, als seine Augen wieder denen Corsos begegneten. »Außer der Quinta, ein paar Möbelstücken und der Bibliothek meines Vaters habe ich nur Schulden geerbt. Wann immer ich irgendwie zu Geld kam, habe ich es in Bücher investiert, und als meine Rente erschöpft war, habe ich verkauft, was es noch zu verkaufen gab: Bilder, Möbel, Geschirr. Ich glaube, Sie wissen, was es heißt, ein leidenschaftlicher Büchersammler zu sein - aber ich bin kein Bibliophiler, ich bin ein Bibliomane. Allein der Gedanke, meine Bibliothek auflösen zu müssen, bereitete mir unsägliche Qualen.«
»Ich habe schon andere Leute wie Sie kennengelernt.«