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»Wirklich?« Fargas sah ihn neugierig an. »Ich bezweifle trotzdem, daß Sie sich eine genaue Vorstellung von meinem Zustand machen können. Ich stand mitten in der Nacht auf und irrte zwischen meinen Büchern umher wie eine arme Seele im Fegefeuer. Ich habe mit ihnen gesprochen, unter Treueschwüren ihre Rücken gestreichelt ... Alles umsonst. Eines Tages mußte ich einen Entschluß fassen, und der bestand darin, den Großteil von ihnen zu opfern, um wenigstens die liebsten und wertvollsten Exemplare zu retten. Weder Sie noch sonst irgend jemand wird je begreifen, was das für mich bedeutet hat: meine Bücher den Geiern zum Fraß vorgeworfen.«

»Ich kann es mir vorstellen«, sagte Corso, dem es nicht das Geringste ausgemacht hätte, an einem solchen Leichenbegängnis teilzunehmen.

»Sie können es sich vorstellen? Nein. Das könnten Sie nicht einmal, wenn Sie hundert Jahre alt würden. Allein die Auswahl hat mich zwei Monate Arbeit gekostet - einundsechzig Tage der Agonie und einen Fieberanfall, an dem ich beinahe gestorben wäre. Als sie dann endlich abgeholt wurden, glaubte ich, verrückt werden zu müssen . Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern passiert, obwohl mittlerweile zwölf Jahre vergangen sind.«

»Und jetzt?«

Der Bibliophile zeigte ihm sein leeres Glas, als symbolisiere es etwas.

»Seit einiger Zeit muß ich wieder auf meine Bücher zurückgreifen. Dabei brauche ich eigentlich nicht viel zum Leben: Einmal pro Woche kommt jemand zum Putzen, und das Essen wird mir vom Dorf heraufgebracht . Nein, mein Geld geht fast ganz für Steuern drauf, die ich dem Staat für die Quinta bezahlen muß.«

Er sprach das Wort »Staat« im selben Ton aus, in dem er »Ratten« oder »Bohrwürmer« gesagt hätte. Corso setzte seine mitfühlende Miene auf und ließ den Blick erneut über die nackten Zimmerwände schweifen.

»Sie könnten das Haus doch verkaufen.«

»In der Tat, das könnte ich.« Fargas nickte apathisch. »Aber es gibt Dinge, die Sie nicht verstehen.«

Corso hatte sich gebückt und einen Folioband in die Hand genommen, den er interessiert durchblätterte. De Symmetria von Dürer, Paris 1557, ein Nachdruck der ersten, lateinischen Ausgabe von Nürnberg. Gut erhalten und mit breiten Seitenrändern. Das hätte Flavio La Ponte in helles Entzücken versetzt. Und wen nicht.

»Wie oft verkaufen Sie Bücher?«

»Zwei- oder dreimal pro Jahr; damit habe ich genug. Nach langem Hin und Her wähle ich einen Band aus und verkaufe ihn. Das ist das Zeremoniell, das ich vorher gemeint habe, als Sie ankamen. Ich habe einen Käufer, ein Landsmann von Ihnen, der mich zweimal im fahr besucht.«

»Kenne ich ihn?« fragte Corso.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte der Bibliophile, ohne einen Namen hinzuzufügen. »Ich erwarte ihn just in diesen Tagen, und als Sie geläutet haben, war ich gerade dabei, ein Opfer zu bestimmen .    « Er imitierte mit einer seiner schlanken Hände

die Bewegung eines Fallbeils und lächelte melancholisch. »Wieder einmal muß ein Buch sterben, damit die anderen zusammenbleiben können.«

Corso sah zur Decke hinauf - die Analogie war augenfällig: Abraham, dem ein tiefer Riß quer durchs Gesicht verlief, versuchte unter großer Anstrengung, seine messerbewehrte Rechte freizubekommen, die der Engel mit einer Hand festhielt, während er mit der anderen den Patriarchen streng zurechtwies. Unter der Messerklinge, den Kopf auf einen Stein gebettet, wartete Isaak resigniert darauf, daß sich sein Schicksal erfüllte. Er war blond und rosig wie einer von diesen Epheben, die niemals nein sagen. Ein bißchen weiter links war eine Art Schaf gemalt, das sich im Dorngestrüpp verfangen hatte, und Corso ergriff insgeheim Partei für das Schaf.

»Dann gibt es wohl keine andere Lösung«, sagte er.

»Ich hätte schon eine gefunden .    « Fargas lächelte bitter.

»Aber der Löwe verlangt seinen Teil, die Haie wittern das Blut und den Köder. Leider gibt es heute keine Leute mehr wie den Grafen von Artois, der König von Frankreich war. Kennen Sie die Anekdote? Der alte Marquis de Paulmy besaß sechzigtausend Bücher und war am Rande des Ruins. Um den Gläubigern zu entgehen, verkaufte er seine Bibliothek an den Grafen von Artois, aber der machte es zur Bedingung, daß sich der Alte bis zu seinem Tod darum kümmerte. Mit dem verdienten Geld konnte Paulmy neue Bände kaufen und so die Sammlung bereichern, die bereits einem anderen gehörte .«

Fargas vergrub die Hände in den Hosentaschen, humpelte an seinen Büchern entlang und ging sie der Reihe nach durch.

Corso mußte unwillkürlich an den abgemagerten, zerlumpten Montgomery denken, der seine Truppen in El Alamein abschritt.

»Manchmal betrachte ich sie stundenlang und wedle nur ein bißchen den Staub weg, ohne sie anzufassen oder aufzuschlagen.« Er war stehengeblieben und hatte sich niedergebeugt, um eines der Bücher auf dem alten Teppich geradezurücken. »Ich weiß in- und auswendig, was sich unter jedem Deckel verbirgt ... Sehen Sie sich das hier an: De revolutionis celestium, Nikolaus Kopernikus. Zweite Auflage, Basel 1566. Eine Lappalie, nicht? Wie die Vulgata Clementina, die Sie dort zu Ihrer Rechten haben, zwischen den sechs Bänden der Poliglota Ihres Landsmannes Cisneros und dem Chronicarum von Nürnberg, Und beachten Sie dort drüben diesen kuriosen Folianten: Praxis criminis persequendi von Simon de Colines, 1541. Oder diesen Einband mit fünf Bünden und Ziernägeln, der vor Ihnen liegt. Wissen Sie, was der enthält? Die Legenda aurea von Jacobus a Voragine, Basel 1493, gedruckt von Nikolaus Kesler.«

Corso blätterte das Buch durch. Es handelte sich um ein wunderschönes Exemplar, ebenfalls mit sehr breiten Blatträndern. Nachdem er es vorsichtig an seinen Platz zurückgelegt hatte, richtete er sich wieder auf und putzte mit dem Taschentuch seine Brillengläser. Das hätte dem kältesten Typen den Schweiß auf die Stirn getrieben.

»Sie können nicht ganz recht im Kopf sein. Wenn Sie das alles verkaufen würden, hätten Sie für den Rest Ihres Lebens ausgesorgt.«

»Ich weiß.« Fargas bückte sich, um die Position eines Buches zu korrigieren, das minimal verrückt war. »Aber wenn ich das alles verkaufen würde, hätte mein Leben keinen Sinn mehr, und wozu brauchte ich dann noch Geld?«

Corso deutete auf eine Reihe von Büchern, die stark beschä-digt waren, darunter mehrere Inkunabeln und Handschriften. Dem Einband nach stammte das jüngste unter ihnen aus dem 17. Jahrhundert.

»Sie haben viele alte Ausgaben von Ritterromanen ...«

»Ja, die habe ich von meinem Vater geerbt. Er hatte sich in die Idee verrannt, alle fünfundneunzig Bücher aus der Bibliothek des Don Quijote zusammenzutragen, besonders die aus der Inventarliste des Dorfpfarrers. Von ihm habe ich auch diesen kuriosen Quijote bekommen, den Sie dort neben der Erstausgabe von Os Lusiadas sehen: ein vierbändiger Ibarra aus dem Jahr 1780. Er enthält nicht nur die ursprünglichen Bildtafeln, sondern wurde zusätzlich mit englischen Tafeln aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereichert, sowie mit sechs Originalgouachen und einer faksimilierten Geburtsurkunde von Cervantes auf Velin. So hat jeder seinen Spleen. Bei meinem Vater, der als Diplomat viele Jahre in Spanien gelebt hat, war es Cervantes. Bei anderen artet es zu regelrechten Manien aus. Es gibt Sammler, die keine noch so unscheinbare Restauration dulden, oder solche, die grundsätzlich kein Buch kaufen, von dem mehr als fünfzig Stück gedruckt wurden ... Meine Vorliebe - das werden Sie schon bemerkt haben - galt unbeschnittenen Exemplaren. Mit einem Meterstab in der Hand habe ich Auktionen und Antiquariate abgeklappert, und wenn ich ein Buch aufschlug, das noch jungfraulich war, dessen Seiten womöglich noch gar nicht aufgeschlitzt waren, bekam ich weiche Knie ... Haben Sie Nodiers Spottgeschichte über den Bibliophilen gelesen? Mir erging es genauso. Ich hätte sie mit größtem Vergnügen erdolcht, die Buchbinder, die allzu leichtfertig mit der Papierschneidemaschine umgingen. Und ein Exemplar zu entdecken, das zwei Millimeter mehr Blattrand hatte, als in den kanonischen Bibliographien angegeben, war für mich der Gipfel des Glücks.«