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»Fühlen Sie sich wie zu Hause.«

Corso leerte sein Glas, packte seine Aufzeichnungen aus und begann zu arbeiten. Auf einem Blatt Papier waren in Tinte drei Kästen gezeichnet, in die er jeweils eine Nummer und einen Namen geschrieben hatte:

Er begann, Seite für Seite, jeden Unterschied zwischen Exemplar eins und Exemplar zwei aufzuschreiben, so klein er auch war: ein Fleck auf dem Papier, hier eine dunklere Tönung der Druckfarbe usw. Als er bei der ersten Abbildung ankam -NEM. PERV.T QVI N.N LEG. CERT.RIT: der Ritter, der den Betrachter zum Schweigen aufforderte -, zog er aus seiner Segeltuchtasche eine Lupe mit siebenfacher Vergrößerung heraus und begann die Holzschnitte der beiden Exemplare Linie um Linie miteinander zu vergleichen. Sie waren identisch. Er stellte fest, daß sogar die Tiefe des Abdrucks, den die Klischees auf dem Papier hinterlassen hatten, dieselbe war, wie überhaupt die ganze typographische Gestaltung der beiden Bände. Es gab weder Zeilen noch Lettern, die abgenützt, beschädigt oder verbogen gewesen wären, und wenn, so waren sie es in beiden Exemplaren. Das bedeutete, daß die Bücher eins nach dem anderen, womöglich sogar unmittelbar hintereinander, mit derselben Presse gedruckt worden waren. Corso hatte es also mit einem Zwillingspaar zu tun, wie es im Jargon der Gebrüder Ceniza hieß.

Er fuhr mit seinen Notizen fort. Ein geringfügiger Mangel in der sechsten Zeile von Seite 19 des zweiten Exemplars hielt ihn ein wenig auf, bis er sicher war, daß es sich um einen simplen Tintenfleck handelte. Er blätterte weiter. Beide Exemplare hatten denselben Aufbau: ein Vorsatz und 160 Seiten auf zwanzig gehefteten Druckbogen, die jeweils achtmal gefalzt waren. Die neun Bildtafeln gehörten in beiden Büchern nicht zum eigentlichen Text. Man hatte sie extra gedruckt - die Rückseiten waren »vakat«, also unbedruckt - und erst bei der

Bindung eingefügt. Ihre Position innerhalb der Bücher war in beiden Exemplaren identisch:

Entweder Varo Borja litt an Wahnvorstellungen oder dieser Auftrag war verdammt seltsam. Hier deutete nichts, aber auch gar nichts, auf eine Fälschung hin. Bestenfalls konnte es sich um eine apokryphe Ausgabe der Zeit handeln, der dann aber beide Exemplare angehören mußten. Nummer eins und Nummer zwei waren ein Musterbeispiel der Rechtschaffenheit auf gedrucktem Papier.

Corso trank den letzten Rest Cognac und beugte sich dann mit der Lupe über den Holzschnitt II - CLAVS. PAT.T -, der bärtige Eremit mit den zwei Schlüsseln, eine Laterne auf dem Boden und eine verschlossene Tür. Wie er so die Tafeln miteinander verglich, fühlte er sich auf einmal wieder wie als kleiner Junge vor einem Suchbild, in dem es sieben Fehler zu entdecken galt. Und im Grunde - er schnitt eine Grimasse -ging es genau darum. Das Leben als Spiel. Und die Bücher als Spiegel des Lebens.

Da sah er es - plötzlich und unerwartet, wie es bisweilen passiert, wenn man etwas aus der richtigen Perspektive betrachtet und Dinge oder Situationen, die einem zunächst konfus erscheinen, Form annehmen und verständlich werden.

Corso holte tief Luft und blähte die Backen, als wolle er jeden Augenblick in prustendes Gelächter ausbrechen, aber er brachte nur ein trockenes, ungläubiges und humorloses Husten zustande. Das war unmöglich. Mit solchen Dingen schummelte man nicht. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Was er da vor sich hatte, war kein Rätselheft vom Bahnhofskiosk, das waren Bücher, die vor dreihundertfünfzig Jahren hergestellt worden waren. Sie hatten ihrem Drucker das Leben gekostet, waren auf dem Index der Inquisition gestanden und wurden von den seriösesten Bibliographien zitiert: Tafel II. Lateinische Bildunterschrift. Greis mit zwei Schlüsseln und einem Licht vor verschlossener Tür ... Aber niemand hatte bis jetzt zwei von den insgesamt drei bekannten Exemplaren nebeneinander gelegt und verglichen. Abgesehen davon, daß es nicht einfach war, sie zusammenzubekommen, hatte das niemand für nötig gehalten. Greis mit zwei Schlüsseln. Das hatte genügt.

Corso stand vom Tisch auf und ging zum Fenster. Dort blieb er eine Weile stehen und sah durch die Scheibe hinaus, die sich langsam von seinem Atem beschlug. Letzten Endes hatte Varo Borja doch recht. Aristide Torchia mußte sich dort oben auf seinem Scheiterhaufen in Campo dei Fiori schiefgelacht haben, bevor das Feuer seiner Spottlust für immer ein Ende bereitete. Dieser postume Streich war genial.

VIII. Postuma necat

»Antwortet keiner?«

»Nein.«

»Um so schlimmer. Dann ist er nämlich tot.«

M. Leblanc, Arsène Lupin

Keiner kannte die Schwierigkeiten seines Gewerbes besser als Lucas Corso, und zu diesen gehörte besonders der Umstand, daß Bibliographien für gewöhnlich von Gelehrten verfaßt werden, die Bücher zitieren, ohne sie je gelesen zu haben. Sie stützen sich auf Berichte aus zweiter Hand und vertrauen blind auf die Angaben, die sie enthalten. So kann es passieren, daß fehler- oder lückenhafte Darstellungen mitunter ganze Generationen lang in Umlauf sind, ohne daß irgend jemand Bedenken anmeldet, bis die Sache eines Tages zufällig ans Licht kommt. Und genauso war das mit den Neun Pforten. Abgesehen von einer kurzen Erwähnung in den kanonischen Bibliographien, fanden sich auch in ausführlicheren Abhandlungen immer nur flüchtige Beschreibungen der neun Holzschnitte. Was zum Beispiel die zweite Bildtafel betraf, so war in allen bekannten Aufsätzen die Rede von einem alten Mann mit dem Aussehen eines Weisen oder Eremiten, der vor einer Tür stand und zwei Schlüssel in der Hand hielt. Nirgends wurde aber genannt, in welcher Hand er die Schlüssel hielt. Nun hatte Corso die Antwort: in der linken auf dem Holzschnitt in Exemplar eins, in der rechten auf dem Holzschnitt von Exemplar zwei.

Jetzt galt es herauszufinden, was mit der Nummer drei los war, aber damit mußte er sich noch eine Weile gedulden. Corso blieb bis zum Einbruch der Dunkelheit in der Quinta da Sole-dade. Er arbeitete im Schein eines mehrarmigen Kerzenleuchters und machte sich unentwegt Notizen, während er die beiden Exemplare ein ums andere Mal durchging und die Tafeln studierte, um seine Hypothese zu erhärten. Und er stieß tatsächlich auf neue Beweise. Zum Schluß betrachtete er zufrieden seine Ausbeute in Form von Notizen, Tabellen und Diagrammen, zwischen denen sich seltsame Bezüge herstellen ließen. Fünf Abbildungen der beiden Exemplare wiesen Abweichungen auf. Abgesehen von der Hand, in der der alte Mann auf Tafel II die Schlüssel hielt, hatte das Labyrinth auf Tafel IIII in einem Exemplar einen Ausgang und im anderen nicht. Auf dem Holzschnitt V zeigte der Tod eine Sanduhr, die bei Nummer eins unten gefüllt war, in der Nummer zwei dagegen oben. Das Schachbrett auf der Bildtafel VII hatte in Varo Borjas Exemplar weiße Kästchen und in dem von Fargas schwarze. Und auf der Tafel VIII verwandelte sich der Scharfrichter, der sich anschickte, eine junge Frau zu köpfen, dank eines Heiligenscheins in einen Racheengel.

Aber das war noch nicht alles, denn die sorgfältige Untersuchung der Tafeln mit der Lupe führte zu einer weiteren Entdeckung. Die in den Bildtafeln versteckten Signaturen des Holzschneiders wiesen noch auf eine andere Spur: In beiden Büchern war A.T., Aristide Torchia, in der Abbildung mit dem alten Mann als sculptor genannt, aber nur in Exemplar zwei auch als inventor. Die Namensinitialen in Borjas Exemplar, auf die Corso bereits von den Brüdern Ceniza hingewiesen worden war, lauteten L.F. Dasselbe war bei weiteren vier der Bildtafeln der Fall, was nur bedeuten konnte, daß der Drucker zwar alle Schnitte eigenhändig in Holz angefertigt hatte, die Originalzeichnungen aber, die ihm dabei als Vorbild dienten, teilweise aus der Feder eines anderen stammten. Demnach handelte es sich weder um eine zeitgenössische Fälschung noch um eine apokryphe Neuauflage. Nein, der Drucker Torchia selbst mußte die Auflage seines Werks »mit Privileg und Erlaubnis der Obrigkeiten« und gemäß eines ausgeklügelten Planes abgeändert haben: Unter die von ihm modifizierten Darstellungen hatte er seine eigenen Initialen gesetzt, um die Autorenschaft L. F. der anderen zu respektieren. Seinen Folterern hatte er gestanden, daß nur ein Exemplar übriggeblieben sei. In Wahrheit hatte er drei hinterlassen und vielleicht einen Schlüssel, um sie womöglich in ein einziges zurückzuverwandeln. Den Rest des Geheimnisses hatte er auf den Scheiterhaufen mitgenommen.