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Corso fluchte leise vor sich hin. Er hätte einen raren Wiegendruck in gutem Zustand dafür gegeben, dem Erfinder dieses absurden Drehbuchs die Fresse polieren zu können.

Als er im Hotel ankam, setzte er sich gleich ans Telefon. Als erstes wählte er die Lissaboner Nummer aus seinem Notizbuch. Und er hatte Glück, denn Amilcar Pinto war zu Hause, wie er der übellaunigen Antwort seiner Frau entnehmen konnte. Aus dem Hintergrund drang das Dröhnen eines Fernsehers, lautes Kinderplärren und das Geschrei streitender Erwachsener durch die schwarze Bakelitmuschel an sein Ohr. Endlich hatte er Pinto an der Strippe, und sie verabredeten, sich in eineinhalb Stunden zu treffen - so lange brauchte Pinto nämlich, um von Lissabon nach Sintra zu kommen. Nachdem das erledigt war, warf Corso einen Blick auf die Uhr und ließ sich von der Rezeption eine Leitung ins Ausland geben, um mit Varo Borja zu sprechen, aber der Antiquar war nicht in seiner Wohnung in Toledo. Er hinterließ ihm eine Nachricht auf dem automatischen Anrufbeantworter und versuchte es dann bei Flavio La Ponte. Da dort auch keiner abnahm, beschloß er, etwas trinken zu gehen. Er versteckte also seine Segeltuchtasche auf dem Schrank und ging in den Aufenthaltsraum des Hotels hinunter.

Das erste, was er sah, als er die Tür des kleinen Salons aufstieß, war das Mädchen. Es konnte sich unmöglich um eine Verwechslung handeln: das kurz geschnittene Haar, ihr jungenhaftes Gesicht, die hochsommergebräunte Haut. Lesend saß sie unter dem Lichtkegel einer Lampe, die Beine ausgestreckt und überkreuzt, die nackten Füße auf den gegenüberliegenden Sessel gelegt. Sie trug ein weißes Baumwoll-T-Shirt zu einer Jeans und hatte sich einen grauen Wollpullover um die Schulter gehängt.

Corso blieb wie angewurzelt stehen, die Hand auf der Türklinke, während ihm die absurdesten Gedanken durch den Kopf schossen. Zufall oder Absicht, das war zu viel.

Schließlich steuerte er, immer noch ungläubig, auf das Mädchen zu. Er war fast bei ihr angelangt, als sie den Kopf hob und ihre grünen Augen auf ihn richtete, diese kristallklaren, tiefgründigen Augen, an die er sich so gut aus dem Zug erinnerte. Er blieb stehen, ohne zu wissen, was er sagen würde, mit dem seltsamen Gefühl, er könne in diesen Augen ertrinken.

»Sie haben mir nicht erzählt, daß Sie nach Sintra kommen würden«, sagte er schließlich.

»Sie mir auch nicht.«

Das Mädchen begleitete seine Antwort mit einem ruhigen Lächeln, das weder Mißbehagen noch Überraschung ausdrückte. Sie schien sich sogar richtig über diese Begegnung zu freuen.

»Was machen Sie hier?« fragte Corso.

Sie zog ihre Füße von dem Sessel zurück und forderte ihn mit einer Geste auf, Platz zu nehmen, aber der Bücherjäger blieb stehen.

»Ich reise«, sagte sie und zeigte ihm ihr Buch - es war ein anderes als das im Zug: Melmoth der Wanderer von Charles Maturin. »Ich lese. Und treffe unerwartet Leute.«

»Unerwartet«, echote Corso.

Nein, das waren eindeutig zu viele unerwartete Begegnungen für eine Nacht, und er ertappte sich dabei, wie er die Anwesenheit des Mädchens in diesem Hotel mit dem Auftauchen Rocheforts auf der Straße in Verbindung brachte. Er war überzeugt, daß er nur den richtigen Blickwinkel herausfinden mußte, um hinter das Geheimnis dieser verrückten Geschichte zu kommen. Aber wie schaffte er das? Im Moment wußte er ja nicht einmal, in welche Richtung er schauen sollte.

»Warum setzen Sie sich nicht?«

Corso tat es mit einem gewissen Unbehagen. Das Mädchen hatte ihr Buch geschlossen und beobachtete ihn neugierig.

»Sie sehen nicht wie ein Tourist aus«, sagte sie.

»Ich bin auch kein Tourist.«

»Sind Sie geschäftlich hier?«

»Ja.« »In Sintra muß jede Arbeit interessant sein.«

Das hat gerade noch gefehlt, dachte Corso, während er seine Brille mit dem Zeigefinger hochschob: sich unter den gegebenen Umständen einem Kreuzverhör unterziehen zu müssen, selbst wenn sein Inquisitor ein hübsches, junges Mädchen war - zu jung, um eine Bedrohung darzustellen. Aber vielleicht lauerte ja gerade hier die Gefahr. Corso griff nach dem Buch, das auf dem Tisch lag, und blätterte ein wenig darin herum. Es handelte sich um eine moderne, englische Ausgabe, und einige Abschnitte waren mit Bleistift unterstrichen. Er sah sich einen von ihnen genauer an:

Seine Augen waren starr auf die untergehende Sonne und auf die Dunkelheit gerichtet, die sich immer mehr ausbreitete -diese widernatürliche Schwärze, die dem strahlendsten und erhabensten Werk Gottes zu sagen schien: »Hör schon auf zu leuchten, und mach mir endlich Platz.«

»Lesen Sie gerne Schauerromane?«

»Ich lese alles gerne.« Sie hatte den Kopf leicht geneigt, und das Licht der Lampe ließ ihren nackten Hals in perspektivischer Verkürzung erscheinen. »Ich liebe Bücher. Wenn ich verreise, packe ich immer ein paar in meinen Rucksack.« »Reisen Sie viel?«

»Sehr viel. Seit Jahrhunderten.«

Corso verzog den Mund, als er ihre Antwort hörte. Das Mädchen sprach völlig ernsthaft und runzelte dabei die Stirn wie ein kleines Kind, das von weltbewegenden Dingen erzählt.

»Ich dachte, Sie sind Studentin.«

»Das manchmal auch.«

Corso legte den Melmoth auf den Tisch zurück.

»Aus Ihnen soll einer schlau werden. Wie alt sind Sie? Achtzehn, neunzehn? Manchmal wirken Sie, als wären Sie noch viel älter.«

»Vielleicht bin ich das ja auch. Bekanntlich spiegeln unsere Gesichter, was wir erlebt und gelesen haben. Sie brauchen sich nur selbst zu nehmen.«

»Was ist mit mir?«

»Haben Sie sich nie lächeln gesehen? Sie lächeln wie ein Soldat aus früheren Zeiten.«

Corso rutschte ungemütlich in seinem Sessel herum.

»Ich weiß nicht, wie ein Soldat aus früheren Zeiten lächelt.«

»Aber ich weiß es.« Der Blick des Mädchens verschleierte sich und wandte sich nach innen, als schweife er durch ihre Erinnerungen. »Einmal war ich dabei, als zehntausend Männer das Meer suchten.«

Corso zog mit übertriebenem Interesse eine Augenbraue hoch.

»Was Sie nicht sagen ... Gehört das zum Gelesenen oder zum Erlebten?«

»Raten Sie mal ...« Sie sah ihn eindringlich an, bevor sie hinzufügte: »Sie scheinen mir doch ein ganz schlauer Typ zu sein, Senor Corso.«

Sie war inzwischen aufgestanden, nahm das Buch vom Tisch und hob ihre weißen Tennisschuhe vom Boden auf. Ihre Augen wirkten jetzt wieder munter, und ihr Glanz kam Corso irgendwie vertraut vor, als habe er ihn in anderen Augen schon einmal wahrgenommen.

»Möglich, daß wir uns mal wieder treffen«, sagte sie, bevor sie ging. »Meinen Sie nicht?«

Corso hegte diesbezüglich nicht den leisesten Zweifel. Ob ihm das nun angenehm war, wußte er im Augenblick nicht zu sagen, noch fand er Zeit, es sich genauer zu überlegen, denn just als das Mädchen zur Tür hinausging, kam Amilcar Pinto herein.

Er war klein und fett. Seine dunkle Haut glänzte wie frisch poliert, und sein dichter Schnurrbart war so struppig, als habe er selbst ihn mit einer Schere zurechtgestutzt. Aus Amilcar Pinto hätte ein rechtschaffener, ja sogar guter Polizist werden können, wäre er nicht gezwungen gewesen, fünf Kinder, eine Frau und einen pensionierten Vater zu ernähren, der ihm heimlich die Zigaretten wegrauchte. Seine Frau, eine Mulattin, die vor zwanzig Jahren einmal sehr schön gewesen sein mußte, hatte er aus Mosambik mitgebracht, als Maputo noch Louren9o Marques war und Pinto Unteroffizier bei den Fallschirmjägern, schlank, tapfer und mit Orden dekoriert. Corso hatte sie kennengelernt, als er mit ihrem Mann wieder einmal ein »Geschäft« besprach: schwarze Ringe unter den Augen, große, schlaffe Brüste, ausgetretene Pantoffeln und das Haar unter einem roten Kopftuch versteckt, in der Diele ihrer Wohnung, die nach schmutzigen Kindern und gekochtem Gemüse stank.