»Wo wir schon dabei sind«, fügte er noch hinzu: »Unser Freund ist nicht gewillt zu verkaufen.«
Am andern Ende der Leitung trat Schweigen ein. Der Antiquar schien nachzudenken, aber es war nicht zu erraten, worüber: über die Holzschnitte oder über den negativen Bescheid Victor Fargas’. Als er schließlich weitersprach, schlug er einen extrem vorsichtigen Ton an:
»Damit war zu rechnen«, sagte er, und Corso wußte immer noch nicht, worauf er sich genau bezog. »Gibt es irgendeinen Weg, diese Schwierigkeit zu umgehen?«
»Möglicherweise.«
Das Telefon verstummte erneut. Fünf Sekunden zählte Corso auf dem Zifferblatt seiner Uhr mit.
»Die Sache ist Ihnen überlassen.«
Damit war ihr Gespräch auch fast schon zu Ende. Corso sagte nichts von seiner Begegnung mit Pinto, und der Antiquar fragte nicht, wie Corso das Problem zu lösen gedachte. Varo Borja wollte lediglich wissen, ob er mehr Geld brauchte, und die Antwort war nein. Schließlich vereinbarten sie, Corso solle zurückrufen, sobald er in Paris war.
Der Bücherjäger beschloß, es noch einmal bei La Ponte zu versuchen, aber wieder meldete sich niemand. Er räumte seine Notizen zusammen, klappte das schwarzgebundene Buch mit dem Pentagramm auf dem Deckel zu, nahm den Ordner mit dem Dumas-Manuskript und stopfte alles in seine Segeltuchtasche. Dann legte er die Tasche unters Bett und band sie mit dem Schulterriemen an einem der Pfosten fest. So konnte sie niemand stehlen, ohne ihn aufzuwecken. Ungemütliches Reisegepäck, dachte er bei sich, während er im Bad den heißen Wasserhahn aufdrehte - und aus unerfindlichen Gründen obendrein gefährlich.
Er putzte die Zähne und begann sich auszuziehen, um sich unter die Dusche zu stellen. Der Spiegel war mit Dampf beschlagen, aber er konnte sich noch erkennen. Mager und knochig wie ein abgezehrter Wolf, dachte Corso, als er seine Kleider auf den Boden fallen ließ. Und dann war es auf einmal wieder da, dieses Gefühl der Beklommenheit, das sich aus der Vergangenheit löste, wie eine Woge von fern heranrollte und sein Bewußtsein mit Schmerz überschwemmte - als werde in seinem Gedächtnis, in seinem Fleisch, plötzlich eine Saite angeschlagen. Nikon. Noch heute mußte er jedesmal, wenn er den Gürtel öffnete, an sie denken - früher durfte nur sie das machen, als gehe es um ein seltsames Ritual. Er schloß die Augen und sah Nikon wieder vor sich, wie sie auf der Bettkante saß und ihm mit einem zärtlichen, genußvollen Lächeln zuerst die Hose und dann den Slip über die Hüften streifte, langsam, sehr langsam. Entspann dich, Lucas Corso. Einmal hatte sie ihn heimlich fotografiert, während er schlief: das Gesicht nach unten, die Stirn von einer vertikalen Falte durchzogen. Dunkle Bartstoppeln überschatteten seine Wangen und ließen sie noch eingefallener erscheinen, und um die Winkel seines halb geöffneten Mundes spielte ein bitterer Zug. Er sah aus wie ein erschöpfter, ängstlicher und gequälter Wolf inmitten der verschneiten Einöde seines weißen Kissens. Ihm hatte es überhaupt nicht gefallen, dieses Foto, als er es zufällig in der Fixiermittelwanne im Bad entdeckte, das Nikon als Labor benützte. Er hatte es zusammen mit dem Negativ in kleine Stücke zerrissen, und sie hatte nie ein Wort darüber verloren.
Corso stellte sich unter die Dusche und ließ das siedendheiße Wasser über sein Gesicht strömen, obwohl es ihm die Augenlider verbrannte. Mit angespannten Muskeln und zusammengepreßten Zähnen hielt er dem Schmerz stand und stemmte sich mit aller Gewalt gegen die Versuchung, wie ein wildes Tier zu heulen und seine Einsamkeit in den Dampf hinauszuschreien, der ihn beinahe erstickte. Über einen Zeitraum von vier Jahren, einem Monat und zwölf Tagen hinweg war Nikon jedesmal, wenn sie sich geliebt hatten, hinter ihm in die Dusche getreten und hatte ihm den Rücken eingeseift, unendlich langsam. Und oft hatte sie sich am Ende an ihn geschmiegt wie ein verirrtes Kind im Regen. Eines Tages gehe ich, als hätten wir uns nie kennengelernt. Dann wirst du dich an meine großen, dunklen Augen erinnern. An meine stummen Vorwürfe. Mein Angststöhnen im Schlaf. Meine Alpträume, die du mir nicht nehmen konntest. An all das wirst du dich erinnern, wenn ich gegangen bin.
Er lehnte den Kopf an die weißen Kacheln, dampftriefend in dieser feuchten Wüste, die ihn so sehr an einen Kreis der Hölle erinnerte. Kein Mensch außer Nikon hatte ihm je den Rücken eingeseift. Weder vorher noch nachher. Niemand. Niemals.
Corso ging ins Zimmer zurück und legte sich mit dem Memorial von St. Helena ins Bett, aber er schaffte es kaum, zwei Zeilen zu lesen:
Und indem er wieder auf den Krieg zu sprechen kam, fuhr der Kaiser fort: »Die Spanier verhielten sich selbst in der Masse wie Ehrenmänner ...«
Er schnitt eine Grimasse angesichts des zweihundert Jahre alten napoleonischen Lobliedes und dachte an einen Satz, den er als Kind einmal gehört hatte von einem seiner Großväter oder von seinem Vater: »Es gibt nur einen Ort, wo wir Spanier eine gute Figur abgeben: auf den Bildern Goyas.« Ehrenmänner, hatte Bonaparte gesagt. Corso dachte an Varo Borja und sein Scheckheft, an Flavio La Ponte und die zu vier Vierteln geplünderten Bibliotheken argloser Witwen. An das Gespenst Nikons, das in der Einöde einer weißen Wüste umherwandelte. An sich selbst: ein Jagdhund, der sich in den Dienst des Meistbietenden stellte. Nein, jetzt haben wir andere Zeiten. Mit einem verzweifelten, bitteren Lächeln auf dem Mund schlief er endlich ein.
Das erste, was er beim Aufwachen sah, war das graue Licht der Morgendämmerung vor dem Fenster. Zu früh. Er drehte sich um, tastete nach der Armbanduhr auf dem Nachttisch, und erst da wurde ihm klar, daß das Telefon läutete. Der Hörer fiel zweimal auf den Boden, bevor er es schaffte, ihn zwischen sein Ohr und das Kissen zu klemmen.
»Ja bitte?«
»Hier ist Ihre Freundin von gestern. Erinnern Sie sich? Irene Adler. Ich bin unten, in der Hotelhalle. Wir müssen miteinander sprechen. Und zwar sofort.«
»Was zum Teufel ...?«:
Aber sie hatte schon wieder eingehängt. Corso setzte sich fluchend die Brille auf, schlug das Leintuch zurück und stieg verschlafen in seine Hose. Dann blickte er von plötzlicher Panik gepackt unters Bett: Die Tasche lag immer noch dort. Unter großer Anstrengung gelang es ihm, die Gegenstände aus seiner Umgebung ins Auge zu fassen. Hier im Zimmer war alles in Ordnung - demnach konnte also nur draußen etwas passiert sein. Er schaffte es gerade, ins Bad zu gehen und sich das Gesicht zu waschen, da klopfte es an der Tür.
»Wissen Sie verdammt noch mal, wie spät es ist?«
Das Mädchen stand in seinem Kapuzenmantel und mit geschultertem Rucksack im Türrahmen. Ihre Augen waren noch grüner, als Corso sie in Erinnerung hatte.
»Es ist halb sieben«, gab sie völlig gelassen zur Antwort. »Und Sie müssen sich so schnell wie möglich anziehen.«
»Sind Sie verrückt geworden?«
»Nein.« Sie war inzwischen ohne Aufforderung eingetreten und sah sich kritisch in seinem Zimmer um. »Wir haben nicht viel Zeit.«
»Wir?«
»Sie und ich. Die Lage hat sich kompliziert.«
Corso schnaubte ärgerlich.
»Hätten Sie sich nicht eine andere Uhrzeit aussuchen können, um mich zu verarschen?«
»Reden Sie keinen Unsinn.« Sie rümpfte die Nase und sah ihn streng an. Trotz ihres jungen Alters und ihres burschikosen Aussehens wirkte sie jetzt sehr reif und selbstbewußt. »Ich meine es ernst.«
Corso griff sich den Rucksack, den sie auf das ungemachte Bett gelegt hatte, drückte ihn ihr in die Hand und wies auf die Tür.
»Scheren Sie sich zum Teufel.«
Das Mädchen rührte sich nicht vom Fleck und beschränkte sich darauf, ihn aufmerksam anzusehen.