»Dort.«
Corso folgte ihrem Blick. Unter dem dünnen Rinnsal, das aus dem Mund des verstümmelten Puttchens mit den ausgehöhlten Augen troff, waren die schemenhaften Umrisse eines menschlichen Körpers zu erkennen, der mit dem Rücken nach oben zwischen den Seerosen und den toten Blättern schwamm.
IX. Der Anitquar in der Rue Bonaparte
»Lieber Freund«, sagte Athos mit ernster Stimme. »Vergeßt nicht, daß die Toten die einzigen sind, denen man hinieden mit Sicherheit nicht noch einmal begegnet.«
A. Dumas, Die drei Musketiere
Lucas Corso bestellte einen zweiten Gin und lehnte sich genüßlich in seinen Korbsessel zurück. Er saß an einem Tisch des Straßencafes Atlas in der Rue de Buci und genoß die Sonne, die um ihn herum ein helles Rechteck aus der Gasse schnitt. Der Morgen war klar und kalt, und das linke Seineufer wimmelte von desorientierten Samurais, Amerikanern mit Turnschuhen und Metrofahrscheinen zwischen den Seiten eines Hemingway-Buches, eleganten Frauen mit Körben voller Baguettes und Salatköpfen, grazilen Galeristinnen mit gelifte-ten Nasen, die ihrem Pausencafe zustrebten. Eine attraktive junge Dame betrachtete die Schaufensterauslagen einer Luxusmetzgerei am Arm ihres Begleiters, eines stattlichen Herrn in fortgeschrittenem Alter, der aussah wie ein Antiquitätenhändler oder Ganove - möglicherweise war er beides. In Corsos näherer Umgebung gab es eine Harley Davidson mit glänzenden Verchromungen, einen knurrigen Foxterrier, der an der Tür einer teuren Weinhandlung angebunden war, und einen jungen Burschen mit Husarenzöpfchen, der vor dem Eingang einer Boutique Blockflöte spielte. Am Nachbartisch knutschte ein vornehm gekleidetes Afrikanerpaar, als hätte es die Ewigkeit vor sich. Aids, Ozonloch und Plutonium schmuggel nahmen sich an diesem sonnigen Pariser Morgen aus wie belanglose Nebensächlichkeiten. Corso erkannte sie sofort, als sie am Ende der Rue Mazarine um die Ecke bog und zielstrebig auf sein Café zusteuerte. Sie war unverwechselbar mit ihrem jungenhaften Aussehen, dem offenen Kapuzenmantel über der Jeans, ihren Augen, die wie Leuchtsignale aus dem braungebrannten Gesicht strahlten und auch auf große Entfernung zu erkennen waren, ja selbst inmitten der vielen Menschen, die durch die mittlerweile sonnenüberflutete Gasse schwirrten. Verteufelt hübsch, hätte Flavio La Ponte wahrscheinlich mit einem Räuspern bemerkt und ihr die gute Seite seines Profils zugedreht, die, wo sein lockiger Bart ein bißchen dichter sprießte. Aber Corso war nicht La Ponte. Er beschränkte sich darauf, dem Kellner, der in diesem Moment ein Glas Gin auf den Tisch stellte - pas d’Bols, m’sieu -, einen feindseligen Blick zuzuwerfen und ihm den Betrag des Kassenzettels genau abgezählt in die Hand zu drücken - service compris, mein Freund -, bevor er wieder dem Mädchen entgegensah. Nein, was diese Art von Stories betraf, so hatte Nikon ihm schon eine Ladung mit dem Bärentöter in den Bauch verpaßt, und das reichte ihm. Corso war sich auch gar nicht sicher, je ein Profil besessen zu haben, das auf einer Seite vorteilhafter war als auf der anderen. Und das kümmerte ihn auch einen Dreck.
Er nahm seine Brille ab, um sie mit dem Taschentuch zu putzen, worauf sich die Straße in einen Strom schemenhafter Silhouetten mit verschwommenen Gesichtern verwandelte. Eine Gestalt hob sich weiterhin von den anderen ab und wurde deutlicher, je näher sie kam, obwohl er bis zuletzt Mühe hatte, ihr kurzes Haar, ihre langen Beine und die weißen Tennisschuhe mit eigenen Konturen zu versehen, selbst als sie sich ihm gegenüber niederließ.
»Ich habe den Laden gefunden. Er ist ganz in der Nähe ... ein paar Straßenecken weiter.«
Corso klemmte sich seine Brille auf die Nase und betrachtete sie, ohne etwas zu erwidern. Gemeinsam waren sie nach Paris gekommen. Der alte Dumas hätte vermutlich den Ausdruck »spornstreichs« gewählt, um zu beschreiben, wie sie in Sintra aufgebrochen und zum Flughafen gehetzt waren. Von dort hatte Corso - zwanzig Minuten vor Abflug der Maschine -Amilcar Pinto angerufen, um ihm vom Ende der bibliographischen Wirrungen Victor Fargas’ zu berichten und das geplante Vorhaben abzublasen. Was das vereinbarte Honorar betraf, so sollte Pinto es trotzdem bekommen, quasi als Schmerzensgeld für die Unannehmlichkeiten. Der Portugiese reagierte trotz der Überraschung - das Telefon hatte ihn aus dem Bett geklingelt -ziemlich gefaßt, mit Wendungen wie: Ich begreife wirklich nicht, worauf du hinauswillst, Corso, aber wir beide haben uns nie in Sintra getroffen, weder gestern noch sonst wann. Auf alle Fälle versprach er, Nachforschungen über den Tod Victor Fargas’ anzustellen, natürlich erst, wenn er offiziell davon erfuhr. Im Moment wolle er tun, als wisse er von nichts. Was ging ihn diese Geschichte auch an? Betreffs der Autopsie des Bibliophilen könne Corso bloß beten, daß die Gerichtsmediziner Selbstmord als Todesursache angeben würden. Von dem Typen mit der Narbe werde er vorsichtshalber eine Personenbeschreibung an die zuständigen Abteilungen weiterleiten. Zum Schluß legte er Corso noch wärmstens ans Herz, sich längere Zeit nicht in Portugal blicken zu lassen und nur telefonisch mit ihm in Verbindung zu bleiben. »Ah, und noch was«, fügte Pinto hinzu, als die Lautsprecher bereits den Flug nach Paris aufriefen. Das nächste Mal solle Corso sich gefälligst an seine Großmutter wenden, bevor er einen Freund in einen Mordfall hineinziehe. Der Telefonapparat schluckte den letzten Escudo, und Corso beeilte sich, unter lebhaftem Protest seine Unschuld zu beteuern. Klar doch, entgegnete der Polizist. Das sagen alle.
Das Mädchen erwartete ihn in der Abflughalle. Zur großen Verwunderung Corsos, dessen graue Gehirnzellen an diesem Morgen einfach nicht auf Trab kommen wollten, hatte sie bereits alles in die Wege geleitet, um sie beide an Bord der Maschine nach Paris unterzubringen, was auch ohne weitere Zwischenfälle gelang. »Ich habe soeben geerbt«, war ihr einziger Kommentar, als Corso ein paar bissige Bemerkungen vom Stapel ließ - von wegen: Tut so arm, und dann ... -, weil sie nicht ein, sondern gleich zwei Tickets am Schalter bezahlt hatte. Später, während des zweistündigen Fluges von Lissabon nach Paris, konnte er dann Fragen stellen, soviel er wollte - sie verweigerte ihm jegliche Antwort. »Alles zu seiner Zeit«, sagte sie nur und warf ihm einen flüchtigen, beinahe verstohlenen Blick von der Seite zu, um sich dann in den Anblick des Wolkenmeeres zu versenken, draußen, vor dem Fenster, weit unterhalb des Kondensstreifens, den die Düsen am Himmel erzeugten. Schließlich war sie, den Kopf an seine Schulter gelehnt, eingeschlafen oder hatte mindestens so getan, denn Corso glaubte, aus dem Rhythmus ihrer Atmung schließen zu können, daß sie in Wahrheit wach war. Sicher stellte sie sich nur schlafend, um seinen Fragen auszuweichen, die sie nicht bereit oder nicht »autorisiert« war, zu beantworten.
An diesem Punkt hätte wohl jeder andere seine Sachen gepackt und die Tür hinter sich zugeknallt. Nicht so Corso. Er war ein geduldiger und kaltblütiger Wolf und besaß die Reflexe und den Instinkt eines Raubtieres. Vergessen wir nicht, daß dieses Mädchen das einzige war, was ihn in der romanhaften, unerklärlichen und irrealen Geschichte, in die er da hineingeraten war, noch mit der Wirklichkeit verband. Und abgesehen davon identifizierte Corso sich längst mit der Rolle des anspruchsvollen Lesers und Protagonisten, den der Verfasser dieses absurden Drehbuchs, der Autor, der hinter den Kulissen die Fäden zog, mit einem Augenzwinkern zu begleiten schien. Ob dieses Augenzwinkern freilich verächtlich oder freundschaftlich gemeint war, das konnte er nicht erraten.
»Ich habe das Gefühl, hier will mich jemand verarschen«, sagte er laut, in neuntausend Meter Höhe über dem Golf von Biskaya. Dann schielte er in Erwartung einer Reaktion oder Antwort zu dem Mädchen hinüber, aber sie rührte sich nicht und atmete ruhig weiter, als schliefe sie tatsächlich oder habe seine Bemerkung überhört. Über ihr Schweigen verärgert, zog er seine Schulter zurück: Ihr Kopf pendelte einen Augenblick im Leeren, dann legte sie ihn mit einem Seufzer ans Fenster.