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Er stand auf und hängte sich seine Segeltuchtasche über die Schulter. Dann schlenderten sie nebeneinander zur Seine hinunter. Das Mädchen ging auf der Innenseite des Trottoirs und blieb hin und wieder vor einem Schaufenster stehen, wenn ein Gemälde, ein alter Stich oder ein Buch ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie betrachtete alles mit offenen Augen, großer Neugier und einem Anflug von Nostalgie um den Mund. Manchmal lächelte sie nachdenklich. Corso hatte das Gefühl, sie suche in den alten Gegenständen nach sich selbst - als falle irgendwo in ihren Erinnerungen die eigene Vergangenheit mit der jener wenigen Überlebenden zusammen, die das Meer der Geschichte nach jedem Schiffbruch hier angespült hatte.

Es gab zwei Antiquariate, eines rechts und eines links von der Straße, einander genau gegenüber. Das von Achille Replinger war sehr alt. Es war außen mit lackiertem Holz verkleidet und besaß ein elegantes Schaufenster, über dem auf einem Schild geschrieben stand: Livres anciens, autographes et documents historiques. Corso befahl dem Mädchen, draußen zu warten, und sie gehorchte ihm widerspruchslos. Als er auf die Ladentür zuschritt und dabei einen Blick in das Schaufenster warf, konnte er feststellen, daß sie sich oberhalb seiner Schulter darin spiegelte; sie stand auf dem gegenüberliegenden Gehweg und sah ihm nach.

Bei seinem Eintreten ertönte ein Glöckchen. Corso nahm einen schweren Eichentisch wahr, Wandregale voll alter Bücher, Mappen mit Stichen in Plastikhüllen und wohl ein Dutzend altmodischer Holzkartotheken. Eine jede von ihnen war auf schön gestalteten Blechschildchen alphabetisch gekennzeichnet. An der Wand hing eine gerahmte Originalhandschrift mit der Legende: Fragment aus Tartuffe. Molière, und daneben drei wertvolle alte Fotografien: Dumas zwischen Victor Hugo und Flaubert.

Achille Replinger stand hinter dem Tisch. Er war ziemlich korpulent, eine Art Porthos mit dichtem grauem Schnurrbart und rötlichem Gesicht. Aus dem Kragen seines Hemdes, über dem er eine Strickkrawatte trug, quoll ein mächtiges Doppelkinn. Er war teuer, aber sehr nachlässig gekleidet: Um seine füllige Taille schlappte eine englische Jacke, und die Flanellhose war zerknittert und hing ein wenig nach unten.

»Corso ... Lucas Corso.« Er drehte das Begleitkärtchen Boris Balkans zwischen den kräftigen, fettgepolsterten Fingern herum und runzelte die Stirn. »Ja, ich erinnere mich an Ihren Anruf von neulich. Irgendwas mit Dumas.«

Corso legte seine Tasche auf den Tisch und zog den Ordner mit den fünfzehn handgeschriebenen Seiten des Vin d’Anjou heraus. Der Antiquar breitete sie vor sich aus und zog eine Augenbraue hoch.

»Kurios«, murmelte er. »Sehr kurios.«

Er atmete stoßweise und keuchend, als leide er an Asthma. Nach einem kritischen Blick auf seinen Besucher zog er eine Brille mit Bifokalgläsern aus der oberen Jackentasche und setzte sie auf. Dann beugte er sich über die Seiten. Als er den Kopf wieder hob, stand ein entzücktes Lächeln auf seinem Gesicht.

»Phantastisch«, sagte er. »Das kaufe ich Ihnen auf der Stelle ab.«

»Ich möchte nicht verkaufen.«

Der Buchhändler schien überrascht und schürzte schmollend die Lippen.

»Ich dachte ...«

»Mir geht es nur um ein Gutachten. Gegen Bezahlung, versteht sich.«

Achille Replinger wackelte mit dem Kopf - Geld war das wenigste. Er wirkte verblüfft und sah Corso über den Rand seiner Brille hinweg mißtrauisch an. Dann bückte er sich erneut über das Manuskript.

»Schade«, sagte er endlich, und sein fragender Blick verriet, daß er zu gerne gewußt hätte, wie diese Seiten in Corsos Hände gelangt waren. »Wie sind Sie zu diesem Manuskript gekommen?«

»Erbschaft ... Eine verstorbene Tante. Haben Sie es vorher schon einmal zu Gesicht bekommen?«

Der Antiquar sah, immer noch argwöhnisch, durch das Schaufenster hinter Corsos Rücken auf die Straße hinaus. Man hätte meinen können, er erwarte sich von einem der Passanten Aufschluß über den wahren Grund dieses Besuchs. Vielleicht suchte er aber nur nach einer passenden Antwort. Schließlich setzte er ein ausweichendes Lächeln auf und faßte an seinen Schnauzer, als wolle er - wie bei einem falschen Bart - sicher-gehen, daß er nicht verrutscht war.

»Hier im >Quartier< weiß einer nie, ob er etwas schon einmal zu Gesicht bekommen hat oder nicht . In diesem Viertel ist schon immer mit alten Büchern und Stichen gehandelt worden . Die Leute kommen hierher, kaufen und verkaufen, und zum Schluß geht alles mehrmals durch dieselben Hände.« Er machte eine Pause und holte Luft - drei kurze Atemzüge -, bevor er Corso einen beunruhigten Blick zuwarf. »Aber dieses Original ... nein«, sagte er, »ich glaube nicht, daß ich das je gesehen habe.« Er blickte wieder auf die Straße hinaus, während sein Gesicht an Röte zunahm. »Sonst würde ich mich bestimmt daran erinnern.«

»Darf ich daraus schließen, daß es echt ist?« wollte Corso wissen.

»Nun ... eigentlich schon.« Der Buchhändler röchelte, während er mit den Fingerkuppen vorsichtig über die Blätter fuhr, fast schien es, er scheue sich, sie zu berühren. Dann faßte er aber doch eines mit Daumen und Zeigefinger an und hob es hoch: »Halbrunde, enge Schrift, mittelstarker Auftrag der Tinte, keine Durchstreichungen . Sparsamer Umgang mit Satzzeichen, unerwartete Großbuchstaben. Das ist zweifellos der reife Dumas, um die Mitte seines Lebens herum, als er die Musketiere schrieb.« Replinger hatte sich zusehends ereifert. Jetzt hielt er plötzlich mit erhobenem Finger inne, und Corso konnte sehen, wie er unter seinem Schnurrbart lächelte. »Warten Sie mal.«

Er ging zu einem mit »D« gekennzeichneten Archiv und zog ein paar Mappen aus elfenbeinfarbener Pappe heraus.

»Das stammt alles von Alexandre Dumas dem Älteren. Die Schrift ist identisch.«

Er breitete etwa ein Dutzend Dokumente vor Corso aus. Einige waren nicht unterschrieben oder nur mit den Initialen »A. D.« versehen, andere dagegen trugen den vollen Namenszug.

Es handelte sich zum größten Teil um kurze Mitteilungen an Verleger, Briefe an Freunde, Einladungen.

»Hier, das ist eins von seinen nordamerikanischen Autogrammen«, erklärte ihm Achille Replinger. »Lincoln hatte ihn um eines gebeten, und Dumas schickte ihm zehn Dollar und gleich hundert Autogramme, die dann auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Pittsburgh verkauft worden sind . « Er zeigte Corso mit offensichtlichem, wenn auch verhaltenem Stolz die Kärtchen. »Und sehen Sie sich das an: eine Einladung zum Abendessen auf das Schloß von Monte Christo, die Residenz, die er sich in Port-Marly hat bauen lassen. Manchmal hat er nur mit seinen Initialen unterschrieben, andere Male mit Pseudonymen . Obwohl nicht alle Handschriften, die von ihm zirkulieren, authentisch sind. Sie wissen doch, daß er Besitzer der Zeitung Le Mousquetaire war, nicht? Nun, dort arbeitete ein gewisser Viellot, der seine Schrift und sein Namenszeichen nachahmen konnte. Und während der letzten drei Jahre seines Lebens zitterten Dumas’ Hände so stark, daß er seine Texte diktieren mußte.«

»Warum blaues Papier?«

»Das bekam er aus Lilie: Ein Drucker, der auch ein großer Anhänger von ihm war, hat es eigens für ihn hergestellt . Fast immer in dieser Farbe, vor allem für die Romane. Für Artikel hat er manchmal rosa Papier verwendet und für Gedichte gelbes. Zum Schreiben hat er, je nach Gattung, eine andere Feder benutzt. Und er haßte blaue Tinte.«

Corso deutete auf die vier weißen Blätter des Manuskripts, die Durchstreichungen und Anmerkungen aufwiesen.

»Und was ist damit?«

Replinger zog die Augenbrauen zusammen.

»Maquet. Sein Mitarbeiter Auguste Maquet. Das sind Korrekturen, die Dumas in der Urfassung vorgenommen hat.« Er fuhr sich mit dem Finger über den Schnurrbart und beugte sich dann vor, um den Text mit theatralischer Miene zu deklamieren: »Schrecklich! Schrecklich!< murmelte Athos, während Porthos die Flaschen zerschlug und Aramis den etwas verspäteten Befehl gab, einen Beichtvater zu holen.« Der Antiquar beendete den Satz mit einem Seufzer und nickte zufrieden, während er Corso das Blatt hinhielt. »Sehen Sie hier: Maquet hatte lediglich geschrieben: Und hauchte vor den entsetzten Freunden d’Artagnans sein Leben aus. Dumas hat diesen Satz durchgestrichen und die anderen darübergeschrieben, um die Passage mit mehr Dialog zu versehen.«