»Was können Sie mir über Maquet erzählen?«
Der andere zuckte unentschlossen mit den breiten Schultern.
»Nicht sehr viel.« Seine Stimme klang jetzt wieder ausweichend. »Er war zehn Jahre jünger als Dumas und ist ihm von einem gemeinsamen Freund, Gérard de Nerval, vorgestellt worden. Er schrieb ziemlich erfolglos historische Romane, und eines Tages hat er Dumas einen davon gezeigt: Der gute Mann aus Buvat, oder die Verschwörung von Cellamare. Dumas verwandelte das Manuskript in den Chevalier von Harmental und gab es unter seinem Namen in Druck. Maquet bekam dafür 1200 Francs.«
»Können Sie aufgrund der Handschrift und Schreibart bestimmen, wann der Vin d’Anjou abgefaßt worden ist?«
»Klar kann ich das. Es stimmt alles mit Dokumenten aus dem Jahr 1844 überein, dem Entstehungsjahr der Drei Musketiere. Die blauen und weißen Blätter lassen sich mit der Arbeitsweise der beiden erklären: Dumas und sein Partner haben im Akkord geschrieben. Dem d’Artagnan von Courtilz haben sie die Namen ihrer Helden entnommen, die Reise nach Paris, die Intrige mit Milady und die Gestalt der Ehefrau eines Garkochs, der Dumas das Aussehen seiner Geliebten Belle Krebsamer verlieh, um Madame Bonacieux zu verkörpern . Die Entführung Constances ist den Memoiren von La Porte entlehnt, einem Vertrauensmann Anna von Österreichs. Und die berühmte Episode mit den Diamantnadeln haben sie bei La Rochefoucauld und in einem Buch von Roederer gefunden, Politische und galante Intrigen am französischen Hofe. Sie haben zu der Zeit nicht nur an den Drei Musketieren geschrieben, sondern auch an der Königin Margot und am Chevalier von Maison-Rouge. «
Replinger legte eine weitere Verschnaufpause ein. Er steigerte sich mit jedem Wort mehr in die Sache hinein, und sein Gesicht glühte jetzt förmlich. Bei den letzten Buchtiteln hatte er sich vor lauter Eile ein paarmal verhaspelt. Er fürchtete seinen Gesprächspartner zu langweilen, aber andererseits wollte er alle Informationen loswerden, die er besaß.
»Über den Chevalier von Maison-Rouge«, fuhr er fort, als er wieder bei Atem war, »gibt es eine lustige Anekdote. Als der Roman unter seinem Originaltitel angekündigt wurde - Le Chevalier de Rougeville erhielt Dumas ein Protestschreiben, das von einem Marquis mit genau demselben Namen unterzeichnet war. Dumas änderte daraufhin den Titel, aber nach kurzer Zeit erreichte ihn ein zweiter Brief. Sehr geehrter Herr, schrieb der Adlige, geben Sie Ihrem Roman den Titel, der Ihnen beliebt. Ich bin der letzte Abkömmling meines Geschlechts und jage mir in einer Stunde eine Kugel durch den Kopf. Und tatsächlich beging der Marquis von Rougeville wegen einer Weibergeschichte Selbstmord.«
Replinger schnappte erneut nach Luft und lächelte, breit und rotwangig, als wolle er um Nachsicht bitten. Eine seiner kräftigen Pranken lag neben den blauen Blättern auf dem Tisch. >Er sieht aus wie ein erschöpfter Riese<, dachte Corso. Porthos in der Grotte von Locmaria.
»Boris Balkan hat untertrieben: Sie sind ein großer DumasExperte. Kein Wunder, daß Sie beide miteinander befreundet sind.«
»Wir respektieren uns. Aber ich tue nur meine Arbeit.« Replinger senkte verlegen den Kopf. »Als Elsässer bin ich nun einmal gewissenhaft veranlagt. Ich handle mit Dokumenten und Büchern, die handschriftliche Widmungen oder Anmerkungen enthalten. Alle von französischen Autoren aus dem 19. Jahrhundert ... Wie könnte ich beurteilen, was in meine Hände gelangt, wenn ich nicht wüßte, von wem und unter welchen Umständen es geschrieben wurde. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Bestens«, erwiderte Corso. »Genau da liegt der Unterschied zwischen einem Fachmann und einem simplen Trödler.«
Replinger warf ihm einen dankbaren Blick zu.
»Sie sind aus dem Gewerbe. Das merkt man sofort.«
»Ja«, sagte Corso und schnitt eine Grimasse. »Aus dem ältesten Gewerbe der Welt.«
Das Lachen des Antiquars ging in einem asthmatischen Röcheln unter. Corso benützte die Unterbrechung, um ihr Gespräch wieder auf Maquet zu bringen.
»Erzählen Sie mir, wie die beiden gearbeitet haben«, bat er.
»Die Technik war ziemlich kompliziert.« Replingers Hände deuteten auf den Tisch und die Stühle, als hätte die Szene sich dort abgespielt. »Dumas hat zu jeder Geschichte zunächst ein Exposé angefertigt, das er mit seinem Mitarbeiter besprach. Maquet stellte daraufhin Recherchen an und schrieb einen Entwurf oder die erste Fassung: Das sind die weißen Seiten. Später hat Dumas der Geschichte auf den blauen Seiten ihre endgültige Form gegeben. Er arbeitete in Hemdsärmeln, morgens oder nachts, fast nie nachmittags. Dabei hat er weder Kaffee noch Likör getrunken, nur Mineralwasser. Und er rauchte auch kaum. Unter dem Druck der Verleger, die ständig mehr wollten, füllte er Seite um Seite. Maquet hat ihm die Rohfassungen per Post zugeschickt, und wenn Verspätungen auftraten, reagierte Dumas sehr ungeduldig.« Replinger zog aus einer der Mappen einen Zettel heraus und legte ihn vor Corso auf den Tisch.
»Da haben Sie den Beweis: Das ist einer der Briefe, den er Maquet geschrieben hat, während sie an der Königin Margot arbeiteten. Wie Sie sehen, beklagt sich Dumas ein wenig: Es läuft alles wie am Schnürchen, abgesehen von sechs oder sieben Seiten über das politische Zeitgeschehen, mit denen ich mich ein bißchen schwertue ... Und wenn wir nicht schneller vorwärtskommen, Heber Freund, so ist das Ihre Schuld: Seit gestern abend um neun drehe ich Däumchen.«
Er hielt inne, um Atem zu schöpfen, und zeigte auf den Vin d’Anjou.
»Bei den vier weißen Blättern mit der Handschrift Maquets und den Anmerkungen von Dumas handelt es sich bestimmt um eine Lieferung in letzter Minute, kurz vor Redaktionsschluß der Zeitung Le Siècle, und so konnte Dumas nur einige von ihnen ganz neu schreiben, während er sich bei den anderen mit hastigen Korrekturen im Originaltext begnügen mußte.«
Der Antiquar begann die Dokumente in ihre Mappen zurückzustecken, um sie wieder in das Archiv mit dem Buchstaben »D« einzuräumen, und Corso hatte Gelegenheit, einen letzten Blick auf die Notiz zu werfen, in der Dumas von seinem Mitarbeiter Nachschub forderte. Offensichtlich hatte er dafür ein Blatt auseinandergerissen, denn der untere Rand war etwas ausgefranst. Das Papier selbst - blaßblau und fein kariert - und die Handschrift waren völlig identisch mit denen des Manuskripts. Gut möglich, daß alle diese Blätter zu ein und demselben Ries gehörten, das der Romancier auf seinem Schreibtisch hatte.
»Von wem sind die Drei Musketiere denn nun wirklich geschrieben worden?«
Replinger, der damit beschäftigt war, die Kartothek wieder zu schließen, zögerte einen Augenblick.
»So genau kann ich Ihnen das auch nicht sagen. Ihre Frage ist zu kategorisch«, erwiderte er schließlich. »Maquet war ein gebildeter Mann, der sich gut in der Geschichte auskannte und sehr viel las, aber ein Genie wie Dumas war er nicht.«
»Haben sie sich zum Schluß nicht in die Haare gekriegt?«
»Doch. Jammerschade . Wissen Sie, daß die beiden anläßlich der Hochzeit von Elisabeth II. zusammen in Spanien waren? Dumas hat sogar einen Briefroman in Fortsetzungen über diese Reise veröffentlicht: Von Paris nach Cädiz. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Die Beziehung endete, als Maquet vor Gericht ging, weil er als Autor von achtzehn der Romane Dumas’ anerkannt werden wollte. Die Richter waren allerdings der Ansicht, er habe nur vorbereitende Arbeiten geleistet . Heute hält man ihn für einen mittelmäßigen Schriftsteller, der den Ruhm eines anderen benützte, um Geld zu verdienen. Obwohl es natürlich auch Leute gibt, die meinen, er sei von Dumas ausgebeutet worden: der >Neger< des Giganten .«