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Ende gut, alles gut ... das war auch so ein Spleen von Nikon gewesen. Wenn sich das Filmpaar - Wolken und Violinen im Hintergrund - am Schluß küßte und »The End« auf dem Bildschirm flackerte, hatte sie oft gerührt dagesessen wie ein sentimentales kleines Mädchen. Corso erinnerte sich daran, wie sie sich im Kino manchmal an ihn gelehnt hatte oder zu Hause vor dem Fernseher, den Mund mit Käsewürfeln vollgestopft, und lange still vor sich hin weinte, ohne die Augen von der Mattscheibe zu wenden. Es gab Szenen, die sie besonders ergriffen hatten: Paul Henreid, der in Ricks Café die Marseillaise singt, Rutger Hauer, der am Ende von Blade Runner sterbend den Kopf sinken läßt, John Wayne und Maureen O’Hara vor dem Kamin in Innisfree, Custer mit Arthur Kennedy am Abend vor Little Big Hörn, Henry Fonda unterwegs zum O. K. Corral oder Mastroianni, der im Park eines Kurbades bis zur Hüfte in einem Becken watet, um den Sonnenhut einer Dame herauszufischen, und dabei nach rechts und links grüßt, elegant, unerschütterlich und in ein Paar schwarzer Augen verliebt. Nikon hatte sich ihrer Tränen nicht geschämt, ja sie war stolz darauf gewesen. >Wenn ich weine, spüre ich, daß ich lebendig bin<, sagte sie später lachend und trocknete sich die Augen, > ... daß ich ein Teil der Welt bin. Und das freut mich. Filme sind ein Gemeinschaftserlebnis. Wenn ich an Kino denke, denke ich an Kinder, die begeistert Beifall klatschen, weil das Siebte Kavallerie-Regiment auftaucht. Und Kino im Fernsehen ist sogar noch besser, weil man sich die Filme zu zweit anguckt und kommentieren kann. Deine Bücher dagegen sind etwas für Egoisten. Für Einzelgänger. Manche von ihnen kann man nicht einmal lesen, weil sie auseinanderfallen würden, sobald man sie aufschlägt. Wer sich nur für Bücher interessiert, braucht niemand anderen, und das macht mir angst.< Eine imaginäre Nikon schluckte ihren letzten Käsewürfel und beobachtete ihn mit halb geöffneten Lippen, als suche sie auf seinem Gesicht nach den ersten Anzeichen einer Krankheit, die bestimmt bald zum Ausbruch kommen würde. >Manchmal machst du mir angst.<

Ende gut, alles gut. Corso drückte auf die Fernbedienung und löschte den Bildschirm. Jetzt war er in Paris, und Nikon fotografierte irgendwo in Afrika oder auf dem Balkan Kinder mit traurigen Augen. Einmal hatte er geglaubt, sie in einer Bar im Fernsehen wiederzuerkennen, im Verlauf einer Nachrichtensendung, ganz flüchtig: Ihre Silhouette zeichnete sich gegen einen Vorhang aus Rauch und Flammen ab, während sie inmitten eines Bombardements, zwischen entsetzt durcheinanderlaufenden Flüchtlingen, aufrecht dastand, das Haar zu einem Zopf geflochten, ihre Kameras umgehängt. Nikon. Unter all den universalen Lügenstories, die sie kritiklos hinnahm, war die mit dem glücklichen Ende die absurdeste. Und wenn sie nicht gestorben sind ... Als wäre das Ergebnis dieser Gleichung definitiv und unanfechtbar. Keine Frage mehr, wie lange die Liebe währt, das Glück, nicht der leiseste Verdacht, daß auch die Ewigkeit in einzelne Menschenleben zerfällt, in Jahre, Monate. Sogar in Tage. Bis zum bitteren Ende - dem zwischen Corso und Nikon nämlich - hatte Nikon es abgelehnt, sich auch nur vorzustellen, daß der Held vielleicht schon zwei Wochen später mit seiner Yacht gegen ein Felsriff krachen und in der Südsee ertrinken konnte. Oder daß die Heldin drei Monate später von einem Auto überfahren würde. Oder daß überhaupt alles ganz anders lief, als sie es sich in ihrer Phantasie ausmalte. Gab es nicht tausend Möglichkeiten? Der eine nahm sich vielleicht eine Geliebte, der andere wurde plötzlich von Groll und Überdruß gepackt, der dritte hätte am liebsten alles wieder ungeschehen gemacht. Wie viele Nächte der Tränen, der Stille, der Einsamkeit würden jenem berühmten Kuß folgen? Welcher Krebs würde den Helden töten, noch bevor er das vierzigste Lebensjahr erreichte? Wovon würde die Heldin leben, bevor sie mit neunzig Jahren in einem Altersheim starb? Was würde aus dem schmucken Offizier werden, wenn seine Schlachten keinen mehr interessierten und seine ruhmreichen Wunden sich in scheußliche Narben verwandelten? Ein Penner? Ein klägliches Häufchen Elend? Wer konnte sagen, welche Dramen sie durchmachten, die Helden, wenn sie alt waren und nur noch herumgeschubst wurden, hilflos ausgeliefert den Stürmen der Welt, der Dummheit und Grausamkeit, der niederträchtigen Natur des Menschen? >Manchmal machst du mir angst<, Corso.

Fünf Minuten vor elf hatte er das Rätsel um Victor Fargas’ Kamin gelöst, was freilich nicht hieß, daß damit alles geklärt gewesen wäre. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und gähnte. Dann überflog er noch einmal die Fragmente, die auf dem Bett verteilt waren. Als er den Kopf wieder hob, begegne-te er seinem eigenen Blick im Spiegel. Im Holzrahmen steckte die alte Postkarte mit den Husaren vor der Kathedrale zu Reims. Corso betrachtete sich - ungekämmtes Haar, dunkle Bartschatten auf den Wangen, ein verbogenes Brillengestell -und lachte leise. Eines jener heimtückischen, boshaft klingenden Wolfslachen, die er für besondere Momente aufsparte. Und das war ein solcher. Sämtliche Fragmente der Neun Pforten, die er hatte identifizieren können, gehörten zu Textseiten. Von den neun Bildtafeln und der Titelseite keine Spur. Das ließ zwei Vermutungen zu: Entweder sie waren verbrannt, oder aber - und das schien plausibler - irgend jemand hatte sie aus dem Buch herausgerissen und eingesteckt, bevor er den Rest ins Feuer warf. Egal, wer dieser jemand war, er - oder sie -mußte sich jedenfalls für ziemlich schlau halten . Oder sollte er nicht besser sagen, mußten sich für sehr schlau halten? Ja, vielleicht war es nach der unerwarteten Vision La Pontes und Liana Taillefers tatsächlich Zeit, sich an den Gebrauch der dritten Person Plural zu gewöhnen. Jetzt ging es vor allem darum herauszufinden, ob es sich bei den Fährten, die er da aufgespürt hatte, um Fehler des Gegners handelte oder um ausgeklügelte Ablenkungsmanöver. Und da gerade von Ablenkungsmanövern die Rede ist: Es klopfte, und als Corso die Tür öffnete - nicht ohne vorher das Exemplar Nummer eins und den Dumas-Ordner rasch unter die Bettdecke gesteckt zu haben -, stand das Mädchen auf der Schwelle. Sie war barfuß und trug ein weißes T-Shirt über ihren Jeans.

»Hallo, Corso. Ich hoffe, du hast nicht vor, heute nacht noch auszugehen.«

Sie blieb im Korridor stehen, die Daumen in den Taschen ihrer enganliegenden Hose, und runzelte die Stirn in Erwartung schlechter Nachrichten.

»Nein, heute brauchst du keine Wache mehr zu schieben.«

Sie lächelte erleichert.

»Ich falle um vor Müdigkeit.«

Corso wandte ihr den Rücken zu und ging zu einem Nachttisch, auf dem die Flasche stand. Als er sah, daß sie leer war, begann er in der Minibar herumzukramen, bis er triumphierend ein Fläschchen Gin hochhielt. Er goß es in ein Glas und benetzte sich die Lippen. Das Mädchen stand immer noch im Türrahmen.

»Sie haben die Holzschnitte geklaut. Alle neun.« Corso deutete mit der Hand, in der er das Glas hielt, auf die Fragmente der Nummer zwei. »Den Rest haben sie ins Feuer geworfen, um den Diebstahl zu vertuschen. Dabei wurde aber achtgegeben, daß einzelne Fragmente übrig bleiben. So kann das Buch identifiziert und offiziell für verbrannt erklärt wDaieMädchen neigte den Kopf zur Seite und betrachtete ihn.

»Du bist schlau.«

»Klar bin ich das. Deswegen haben sie mich ja mit dieser Sache beauftragt.«

Jetzt entschloß sich das Mädchen, doch einzutreten. Corso betrachtete ihre nackten Füße neben dem Bett. Ihre Augen wanderten über die verkohlten Papierfetzen.

»Fargas hat das Buch jedenfalls nicht verbrannt«, stellte er fest. »Dazu wäre er niemals in der Lage gewesen . Was haben sie mit ihm gemacht? Einen Selbstmord inszeniert, wie mit Enrique Taillefer?«