Namen nicht Tausende von Unglücklichen gefoltert und verbrannt worden wären.«
»Wie Aristide Torchia.«
»Ja, zum Beispiel. Obwohl der wahrhaftig kein Unschuldsengel war.«
»Was wissen Sie über ihn?«
Die Baronin wackelte mit dem Kopf, leerte ihre Kaffeetasse und wackelte dann wieder etwas.
»Die Torchias waren eine wohlhabende Kaufmannsfamilie aus Venedig. Sie handelten mit spanischem und französischem Büttenpapier. Aristide wurde als junger Mann nach Holland geschickt, wo er bei den Elzeviers in die Lehre ging. Die Elzeviers waren Geschäftsfreunde seines Vaters. Von Holland ist er dann nach Prag umgesiedelt.«
»Das wußte ich nicht.«
»Na, sehen Sie. Prag: Die europäische Hauptstadt der Magie und der Geheimwissenschaften, wie es vier Jahrhunderte zuvor Toledo gewesen war. Fällt Ihnen etwas auf? Torchia nimmt sich ein Zimmer in >Maria Schneec, dem Stadtviertel der Magie, ganz in der Nähe des Jungmannplatzes, auf dem die Statue von Jan Hus steht. Erinnern Sie sich, was Hus am Fuße des Scheiterhaufens gesagt hat?«
»Aus meiner Asche wird ein Schwan aufsteigen, den ihr nicht verbrennen könnt?«
»Genau. Es ist einfach, sich mit Ihnen zu unterhalten, und das ist vorteilhaft für Ihre Arbeit.« Die Baronin atmete unfreiwillig ein wenig Rauch von Corsos Zigarette ein und sah ihn etwas unwillig an, aber das störte Corso nicht im geringsten. »Wo waren wir stehengeblieben? Ach, ja. Prag, zweiter Akt: Torchia zieht jetzt ins Judenviertel um, in eine Wohnung gleich neben der Synagoge. In diesem Stadtteil gibt es Fenster, hinter denen die ganze Nacht Licht brennt - dort suchen die Kabbalisten nach der Beschwörungsformel für den Golem. Später zieht Torchia noch einmal um, diesmal in das Mal a-Strana-Viertel ...« Sie lächelte ihn komplizenhaft an. »Wonach klingt Ihnen das?«
»Nach einer Pilgerfahrt. Oder Studienreise, wie man es heute nennen würde.«
»Genau dieser Meinung bin ich nämlich auch.« Die Baronin nickte zufrieden. Corso war mittlerweile gänzlich von ihr adoptiert und nahm auf ihrer persönlichen Wertskala einen Ehrenplatz ein. »Es kann kein Zufall sein, daß Torchia seine Unterkünfte ausgerechnet an den drei Punkten wählt, an denen sich das okkulte Wissen der damaligen Zeit konzentriert. Und das in einem Prag, in dessen Straßen die Schritte Agrippas und Paracelsus’ nachhallen, in dessen Bibliotheken sich die letzten noch erhaltenen Handschriften der chaldäischen Magie befinden, die pythagoreischen Schlüssel, die nach dem Gemetzel von Metapont verschollen waren.« Sie beugte sich ein wenig zu ihm hinüber und setzte eine vertrauliche Miene auf: Miss Marple, die sich anschickt, ihrer besten Freundin zu verraten, daß sie Zyankali im Teegebäck entdeckt hat. »In diesem Prag, Senor Corso, hocken in finsteren Arbeitsstuben Männer, die die Carmina beherrschen, also die Kunst der magischen Wörter, die Nekromantie, die Kunst, sich mit den Toten in Verbindung zu setzen.« Sie hielt den Atem an, bevor sie hauchte: »Und die Goetia ... «
»Die Kunst der Teufelsbeschwörung.«
»Ja.« Die Baronin lehnte sich wohlig schaudernd in den Stuhl zurück. Ihre Augen glänzten. Jetzt war sie in ihrem Element. Ihre Stimme überschlug sich beinahe beim Sprechen, als habe sie zu wenig Zeit, um alles loszuwerden, was sie wußte. »Tor-chia lebte in jenen Monaten an einem Ort, an dem viele seltene Texte und Abbildungen aufbewahrt werden, die Kriege, Feuersbrünste und Verfolgungen überlebt haben . So auch die Reste des magischen Buches, mit dem sich die Türen des Wissens und der Macht öffnen lassen: das Delomelanicon, die Anleitung zur Beschwörung der Schatten.«
Sie sprach in heimlichtuerischem, beinahe theatralischem Ton, begleitete ihre Worte jedoch mit einem Lächeln. Es hatte den Anschein, als nehme sie die Sache selbst nicht so richtig ernst oder wolle Corso raten, einen gesunden Abstand zu wahren.
»Am Ende seiner Lehrjahre«, fuhr sie fort, »begibt Torchia sich wieder nach Venedig ... Passen Sie gut auf, das ist wichtig: Trotz der Risiken, die ihn in Italien erwarten, verläßt der Drucker das relativ sichere Prag, um in seine Heimatstadt zurückzukehren und dort eine Reihe verbotener Bücher zu veröffentlichen. Genau die bringen ihn dann auf den Scheiterhaufen. Seltsam, nicht?«
»Das sieht ja ganz nach einer Mission aus.«
»Ja. Aber in wessen Auftrag? . « Die Baronin schlug die Neun Pforten auf der Titelseite auf. »Dieses >mit Privileg und Genehmigung der Obrigkeiten< gibt zu denken, finden Sie nicht? Es ist sehr wahrscheinlich, daß Torchia in Prag einer Geheimsekte beigetreten ist, die ihn mit der Verbreitung einer Botschaft beauftragt hat ... eine Art Apostolat.«
»Das Evangelium nach Beelzebub, von dem Sie vorher gesprochen haben.«
»Ja, vielleicht. Fest steht, daß Torchia die Neun Pforten im ungünstigsten Augenblick veröffentlicht hat. Zwischen 1550 und 1666 haben der humanistische Neuplatonismus und die hermetisch-kabbalistische Bewegung ihre Schlachten verloren und sind in einem Meer teuflischer Gerüchte untergegangen . Leute wie Giordano Bruno und John Dee wurden verbrannt oder starben als Verfolgte im bittersten Elend. Mit dem Triumph der Gegenreformation ist die Inquisition gewachsen wie ein bösartiges Geschwür. Ursprünglich zur Bekämpfung der Ketzerei geschaffen, hatte sie sich zu diesem Zeitpunkt auf Hexen, Magier und Wahrsager spezialisiert, um ihre unheilvolle Existenz zu rechtfertigen. Ein Buchdrucker, der gar mit dem Teufel im Bunde stand, war für die Inquisitoren natürlich ein gefundenes Fressen. Dazu muß allerdings gesagt werden, daß Torchia es ihnen auch wirklich leicht gemacht hat. Hören Sie sich das an« - Frida Ungern blätterte ein wenig in dem Buch herum -: »Pot. m.vere im.go ...«, zitierte sie und sah Corso an. »Ich habe viele Passagen übersetzt - der Text ist ziemlich einfach zu entschlüsseln. Ich könnte Wachsfiguren beleben, heißt es hier zum Beispiel. Und den Mond aus den Angeln heben oder tote Gerippe wieder mit Fleisch versehen. Wie finden Sie das?«
»Infantil . Ganz schön dumm, sich wegen so etwas verbrennen zu lassen.«
»Vielleicht, aber man kann nie wissen . Mögen Sie Shakespeare?«
»Kommt darauf an.«
»Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt.«
»Hamlet. Ein ziemlich unsicherer Junge.«
»Nicht jeder hat es verdient oder ist in der Lage, sich Zugang zu diesen okkulten Dingen zu verschaffen, Senor Corso. >Ein Geheimnis erfahren und es bewahren<, lautet die alte Regel.«
»Und Torchia hat sie nicht befolgt.«
»Sie wissen sicherlich, daß Gott der Kabbala zufolge einen schrecklichen Namen besitzt, der geheim ist.«
»Das Tetragrammaton.«
»Genau. In seinen vier Buchstaben ruht die Harmonie und das Gleichgewicht des Universums. Der Erzengel Gabriel hat Mohammed gewarnt: Gott ist mit siebzigtausend Schleiern aus Licht und Nebel verhüllt. Und sollten die gelüftet werden, so würde selbst ich vernichtet. Aber Gott besitzt nicht als einziger einen solchen Namen. Auch der Teufel hat seinen: eine fürch-terliche, unheilbringende Buchstabenkombination, mit der man ihn rufen kann . und entsetzliche Ereignisse entfesselt.«
»Das ist nichts Neues. Dafür gab es schon lange vor dem Judentum und Christentum einen Namen: die Büchse der Pandora.«
Die Baronin betrachtete ihn zufrieden, als wolle sie ihm jeden Augenblick das Musterschüler-Diplom verleihen.