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Corso betrachtete die Segeltuchtasche zwischen den Füßen des schlafenden Mädchens. Natürlich schmerzte ihn auch dieses Gefühl der Niederlage, das er wie einen Messerstich empfand. Er war enttäuscht, weil er alle Regeln des Spiels befolgt hatte - legitime certaverit - und trotzdem auf den falschen Weg geraten war. Weil der Sieg, gerade zu dem Zeitpunkt, als er greifbar und fühlbar schien, in Bruchstücke zerfallen war. Bestenfalls eine gewonnene Schlacht auf einem Nebenschauplatz. Corso hatte den Eindruck, gegen Phantasmen gekämpft, mit Schatten geboxt oder in die Stille geschrien zu haben. Vielleicht spähte er deshalb seit einer guten Weile mißtrauisch auf die im Nebel schwebende Stadt hinunter, in der Hoffnung, daß sie auf festem Boden aufsetzen würde, bevor er sie betrat.

Der Atem des Mädchens an seiner Schulter ging ruhig und regelmäßig. Er betrachtete ihren nackten Hals, der unter dem Kapuzenmantel hervorleuchtete, und streckte dann die linke Hand aus, bis er ihr warmes Fleisch unter seinen Fingern pulsieren spürte. Sie roch wie immer nach junger Haut und Fieber. Es fiel ihm leicht, in Gedanken die langen, schlanken Linien mit den weichen Rundungen nachzuzeichnen, bis hinunter zu den weißen Tennisschuhen und zu der Segeltuchtasche. Irene Adler. Corso wußte immer noch nicht, unter welchem Namen er an sie denken sollte, aber er erinnerte sich an ihren nackten Körper, an die sanfte Wölbung ihrer Hüfte, die sich im Dämmerlicht des Hotelzimmers abzeichnete, an die halb geöffneten Lippen. Still und unglaublich schön, heiter wie ein ruhiger See, völlig in ihrer Jugend aufgegangen und zugleich eine jahrhundertealte Weisheit ausstrahlend. Und in ihren klaren Augen, die ihn eindringlich aus der Dunkelheit ansahen und schillerten, als hätten sie das Licht des Himmels eingefangen, sein eigenes Schattenbild.

Jetzt sahen ihn diese Augen wieder an, smaragdgrün zwischen langen Wimpern. Das Mädchen war aufgewacht, hatte sich schläfrig an seiner Schulter gerieben, sich dann aufgesetzt und erschrocken umgeblickt.

»Hallo, Corso.«

Der Kapuzenmantel rutschte auf den Boden. Unter dem weißen Baumwoll-T-Shirt zeichnete sich ihr perfekter Oberkörper ab, geschmeidig wie ein junges Tier. »Was machen wir hier?«

»Warten.« Er wies auf die Stadt: Es sah immer noch aus, als werde sie vom Dunst des Flusses getragen. »Bis sie real wird.«

Das Mädchen schaute in die angedeutete Richtung, ohne gleich zu verstehen, was er meinte. Aber bald erschien ein Lächeln auf ihren Lippen.

»Vielleicht wird sie das nie«, sagte sie.

»Dann bleiben wir hier oben. So schlecht ist der Platz doch gar nicht . mit dieser seltsamen, unwirklichen Welt zu unseren Füßen.« Er sah das Mädchen an und schwieg ein Weile, bevor er fortfuhr. »Alles werde ich dir geben, wenn du mich aus freiem Willen anbetest ... Irgendwas in der Art wolltest du mir doch gleich versprechen, oder?«

Das Lächeln des Mädchens war voller Zärtlichkeit. Sie neigte nachdenklich den Kopf und sah Corso in die Augen: »Nein. Ich bin arm.«

»Ja, das weiß ich.« Es stimmte, und um das zu wissen, brauchte er nicht erst in ihren leuchtenden Augen zu lesen. »Dein Gepäck, der Sitzplatz im Zug nach Lissabon ... Komisch. Ich war überzeugt, daß ihr dort, am anderen Ende des Regenbogens, über unbegrenzte Mittel verfügt.« Er verzog den Mund grinsend zu einem Strich, dünn wie die Klinge des Messers, das er noch immer in der Tasche trug. »Das Gold von Peter Schlemihl und so.«

»Dann hast du dich geirrt.« Sie preßte eigensinnig die Lippen zusammen. »Ich habe nur mich selbst.«

Das war auch wahr, und Corso wußte es ebenfalls von Anfang an. Sie log nie. Sie war naiv und weise zugleich, einfach ein verliebtes junges Mädchen auf der Jagd nach einem Schatten.

»Das sehe ich.« Er tat, als schwinge er einen Füllfederhalter durch die Luft. »Und du gibst mir kein Dokument zum Unterschreiben?«

»Ein Dokument?«

»Ja, früher hat man Pakt dazu gesagt. Jetzt ist es wahrscheinlich ein Vertrag mit viel Kleingedrucktem, habe ich recht? Im Streitfall wenden sich die Vertragspartner an das Gericht von Soundso. Schau mal, das ist lustig. Ich wüßte wirklich gerne, welches Gericht für diese Art von Prozessen zuständig ist.«

»Red keinen Quatsch.«

»Warum hast du mich ausgesucht?«

»Ich bin frei.« Sie seufzte melancholisch, als habe sie bereits dafür bezahlt, das sagen zu dürfen. »Und ich kann wählen. Das kann jeder.«

Corso kramte in seiner Manteltasche, bis er das zerknitterte Zigarettenpäckchen fand. Es enthielt nur noch eine Zigarette. Er zog sie raus, sah sie unentschlossen an und steckte sie dann wieder zurück. Vielleicht . nein, sicher würde er sie später dringender benötigen.

»Du hast alles von Anfang an gewußt«, sagte er. »Das waren zwei Geschichten, die nicht das geringste miteinander zu tun hatten. Deshalb hast du dich nie für die Dumas-Variante interessiert ... Milady, Rochefort, Richelieu waren nichts als Komparsen für dich. Jetzt verstehe ich auch deine verblüffende Passivität. Bestimmt hast du dich schrecklich gelangweilt. Du hast in deinen Musketieren herumgeblättert und mich auf den falschen Spielfeldern ziehen lassen.«

Das Mädchen sah durch die Windschutzscheibe hindurch auf die Stadt in ihrem bläulichen Dunstschleier. Sie hob die Hand, wie um ein Gegenargument vorzubringen, ließ sie dann aber wieder fallen, als habe das, was sie sagen wollte, sowieso keinen Sinn.

»Ich konnte kaum etwas anderes tun, als dir zur Seite zu stehen«, sagte sie nach einer Weile. »Bestimmte Wege muß jeder allein gehen. Hast du noch nie etwas vom freien Willen gehört?« Ihr Lächeln war traurig. »Manche von uns bezahlen ihn sehr teuer.«

»Aber du hast dich nicht immer rausgehalten. Als ich an der Seine von Rochefort überfallen wurde: Warum hast du mir da geholfen?«

Sie berührte mit einem Fuß die Segeltuchtasche.

»Der Typ war hinter dem Dumas-Manuskript her - aber die Neun Pforten waren auch in der Tasche. Ich wollte lästige Interferenzen vermeiden.« Sie zuckte mit den Schultern. »Außerdem konnte ich nicht mitansehen, wie er dich schlägt.«

»Und in Sintra? Dort hast du mir gesagt, was Fargas passiert ist.«

»Klar. Da war das Buch ja auch im Spiel.«

»Und die Sache mit dem Stelldichein in Meung .«

»Davon wußte ich nichts. Das habe ich einfach aus dem Roman abgeleitet.«

»Ich dachte, ihr seid allwissend.«

»Dann hast du eben falsch gedacht.« Sie sah ihn ärgerlich an. »Überhaupt begreife ich nicht, warum du ständig im Plural von mir sprichst. Ich bin seit langem allein.«

Seit Jahrhunderten, dachte Corso. Und er hätte es beschwören können: Jahrhunderte der Einsamkeit - da war keine Täuschung möglich. Er hatte sie nackt umarmt, sich im Licht ihrer Augen verloren. Er war in diesem Körper drin gewesen, hatte ihre Haut geschmeckt, das sanfte Pulsieren ihres Halses auf den Lippen gespürt. Er hatte sie leise wimmern hören wie ein verängstigtes Kind oder ein gefallener, einsamer Engel auf der Suche nach Wärme. Und er hatte sie mit geballten Fäusten schlafen und unter Alpträumen leiden sehen, Alpträume von strahlenden blonden Engeln in ihren Rüstungen, unerbittlich, dogmatisch wie Gott selbst, der sie im Gänseschritt aufmarschieren ließ.