Tom warf einen vorsichtigen Blick auf Sally. Der kühle Abendwind spielte mit ihrem Haar. Ihr Gesicht war dem Mondschein zugewandt, ihr Mund stand angesichts der atemberaubenden Aussicht vor Bewunderung und Ehrfurcht ein wenig offen. Eine Hand lag auf ihrem Oberschenkel. Ihr schlanker Leib ruhte leicht im Sattel. Gott, wie schön sie war.
Tom verdrängte den Gedanken verärgert aus seinem Bewusstsein. Sein Leben war eigentlich genau so, wie er es sich wünschte. Es war ihm zwar nicht gelungen, Paläontologe zu werden - dafür hatte sein Vater schon gesorgt -, aber Tierarzt in Utah war das Zweitbeste. Warum sollte er das vermasseln? War er diesen Weg nicht schon einmal gegangen? »Ja«, erwiderte er schließlich. »Ich lege keinen Wert darauf.«
»Und warum nicht?«
»Ich weiß nicht genau, ob ich es erklären kann.«
»Versuchen Sie's.«
»Man muss meinen Vater verstehen. Er wollte sein Leben lang alles steuern, was meine Brüder und ich machten. Er hat uns gelenkt. Er hatte Großes mit uns vor. Doch was ich auch tat - was wir auch taten -, es war ihm nie gut genug.
Wir waren nie gut genug für ihn. Und jetzt das. Ich spiele sein Spiel nicht mehr mit. Mir reicht's.«
Er hielt inne und fragte sich, warum er Sally so viel erzählte.
»Fahren Sie fort«, sagte Sally.
»Er wollte, dass ich Arzt werde. Ich wollte Paläontologe werden und nach Dinosaurierfossilien suchen. Mein Vater meinte, das sei lächerlich - infantil hat er es genannt. Wir schlossen dann den Kompromiss, dass ich Tierarzt werden sollte. Natürlich hat er erwartet, dass ich nach Kentucky gehe und Rennpferde behandle, die Millionen wert sind; dass ich vielleicht sogar in der medizinischen Forschung tätig werde, tolle Entdeckungen mache und den Namen Broadbent in die Geschichtsbücher bringe. Doch ich bin ins Navajo-Reservat gezogen. Und hier will ich bleiben, weil es mir gefällt. Die Pferde hier brauchen mich, und die Menschen auch. Und was die Landschaft Süd-Utahs anbetrifft, so ist sie die schönste der Welt. Außerdem gibt es hier einige der größten Fossilienablagerungen aus der jurassischen Periode und der Kreidezeit auf Erden. Für meinen Vater war mein Umzug in das Reservat ein unglaubliches Versagen und eine große Enttäuschung. Hier ist kein Geld zu verdienen. Hier kann man kein Prestige erringen. An diesem Reservat ist nichts Prächtiges. Seiner Meinung nach hatte ich mit meinem Tiermedizinstudium nur sein Geld verschwendet. Mein Umzug kam ihm wie ein Verrat vor.«
Tom hielt inne. Jetzt hatte er wirklich zu viel erzählt.
»Und damit hat es sich? Sie wollen das ganze Erbe einfach so sausen lassen? Und auch den Codex und alles andere?«
»Stimmt.«
»Einfach so?«
»Die meisten Menschen erben ohnehin nichts. Meine Praxis läuft gar nicht schlecht. Mir gefällt mein Leben, und ich liebe dieses Land. Schauen Sie sich doch mal um. Was kann man sich mehr wünschen?«
Tom registrierte, dass Sally nicht die Landschaft musterte, sondern ihn. Ihr Haar leuchtete leicht im silbernen Licht des Mondes. »Auf wie viel verzichten Sie, wenn ich mir diese Frage erlauben darf?«
Tom verspürte angesichts der schieren Größe seiner Erbschaft ein leichtes Stechen, und das nicht zum ersten Mal.
»Es sind mehr oder weniger hundert Millionen.«
Sally stieß einen Pfiff aus. Dann folgte ein langes Schweigen. Irgendwo in den Canyons unter ihnen heulte ein Kojote, dem ein Genosse Antwort gab. Dann sagte Sally: »Herrgott, Sie haben wirklich Mumm.«
Tom zuckte die Achseln.
»Und Ihre Brüder?«
»Philip hat sich mit dem alten Partner meines Vaters zu-sammengetan, um die versteckte Grabkammer zu suchen.
Soweit ich weiß, ist Vernon allein unterwegs. Warum tun Sie sich nicht mit einem von ihnen zusammen?«
Er bemerkte, dass Sally ihn in der Finsternis ziemlich intensiv anschaute. Schließlich sagte sie: »Ich hab's schon versucht. Vernon ist vor einer Woche ins Ausland gereist, und auch Philip ist verschwunden. Sie sind nach Honduras gefahren. Sie standen als Letzter auf meiner Liste.«
Tom schüttelte den Kopf. »Nach Honduras. Da waren sie aber schnell. Wenn sie mit der Beute zurückkehren, können Sie den Codex von ihnen kriegen. Meinen Segen haben Sie jedenfalls.«
Wieder ein langes Schweigen. »Ich kann das Risiko nicht eingehen. Ihre Brüder haben doch keine Ahnung, um was es geht - und wie viel der Codex wert ist. Da könnte alles passieren.«
»Tut mir Leid, Sally. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Professor Clyve und ich brauchen Ihre Hilfe. Die Welt braucht Ihre Hilfe!«
Tom stierte die finsteren Pappelhaine in den Flussauen des San Juan River an. Aus einem fernen Wacholderbaum meldete sich eine Eule.
»Mein Entschluss steht fest«, sagte er.
Sally musterte ihn weiterhin. Ihr Haar war nun über ihren Schultern und auf ihrem Rücken in heftige Unordnung geraten. Ihre Unterlippe war ein schmaler Strich. Die Pappeln warfen gesprenkeltes Mondlicht über ihren Körper; die ver-
schwommenen silbernen Lichtflecke kräuselten und veränderten sich mit der Brise. »Wirklich?«
Tom seufzte. »Wirklich.«
»Dann helfen Sie mir wenigstens ein bisschen. Ich bitte ja nicht um viel, Tom. Kommen Sie mit mir nach Santa Fe.
Stellen Sie mich den Anwälten und Freunden Ihres Vaters vor. Erzählen Sie mir von seinen Reisen und Gewohnheiten. Erübrigen Sie zwei Tage für mich. Helfen Sie mir weiter. Nur zwei Tage lang.«
»Nein.«
»Ist Ihnen je ein Pferd gestorben?«
»Das passiert alle Nase lang.«
»Ein Pferd, das Sie geliebt haben?«
Tom dachte spontan an sein Pferd Pedernal, das an einem antibiotikaresistenten Keuchhusten verendet war. Nie wieder würde er ein so schönes Pferd besitzen.
»Hätten bessere Medikamente es gerettet?«, fragte Sally.
Tom schaute auf die fernen Lichter von Bluff. Zwei Tage waren nicht viel, und irgendwie hatte Sally ja auch Recht.
»In Ordnung. Sie haben gewonnen. Zwei Tage.«
9
Lewis Skiba, Geschäftsführer von Lampe-Denison Pharmaceuticals, saß reglos an seinem Schreibtisch und blickte auf die graue Reihe von Wolkenkratzern, die sich mitten in Manhattan an der Avenue of the Americas entlangzog. Ein spätnachmittäglicher Regen verfinsterte die Stadt. Das einzige Geräusch in dem getäfelten Büro war das Knistern eines echten Holzfeuers in dem Siena-Marmorkamin aus dem 18. Jahrhundert: eine traurige Erinnerung an bessere Zeiten.
Es war kein kalter Tag, dennoch hatte Skiba die Klimaanlage eingeschaltet, um einen Grund zu haben, Feuer zu machen. Er fand Feuer beruhigend. Es erinnerte ihn irgendwie an seine Kindheit, an den alten Steinkamin in der Holzhütte am See, mit den gekreuzten Hufeisen über dem Kaminsims und den am Gewässer krächzenden Seetauchern. Gott, wenn er doch jetzt dort sein könnte ...
Seine Hand schloss fast gedankenlos die kleine Schublade des Schreibtisches auf und umfasste einen kühlen Kunst-stoffbehälter. Skiba schnippte den Verschluss mit dem Daumennagel auf und entnahm ihm eine trockene kleine eiförmige Pille, die er sich in den Mund steckte und zerkau-te. Sie schmeckte bitter, aber sie verkürzte die Wartezeit.
Und nun der Scotch zum Nachspülen. Skiba griff nach links, schob eine Wandplatte beiseite und nahm eine Flasche sechzig Jahre alten Macallan und ein Whisky-Glas an sich. Er schenkte sich eine ordentliche Lage ein. Der Whisky hatte eine satte Mahagonifarbe.
Ein kühler Spritzer Evian setzte das Aroma frei. Er hob das Glas an die Lippen, kippte einen ordentlichen Schluck in sich hinein und genoss den Geschmack von Torf, Hop-fen, kalter See, Hochlandmoor und feinem spanischem Amontillado.