»Ach, genau da wollen wir doch hin!« Sally klatschte wie ein aufgeregtes kleines Mädchen in die Hände. Tom nippte an seinem Glas und bedauerte seine Wahl. Um das zu ertragen, brauchte er wohl etwas Stärkeres. Er hätte Sally nie erlauben dürfen, hier das Wort zu führen.
»In Ost-Honduras gibt es Sumpfgebiete und hoch liegende Regenwälder, ungefähr dreizehntausend Quadratkilometer, die noch völlig unerforscht sind. Teile davon hat man noch nicht einmal aus der Luft kartographiert.«
»Das habe ich ja gar nicht gewusst!«
Tom schob die Limonade beiseite und hielt nach dem Kellner Ausschau.
»Mein Buch beschreibt eine Reise, die ich an der ganzen Moskito-Küste entlang unternommen habe - durch ein Labyrinth von Lagunen, dort, wo der Dschungel ans Meer stößt. Ich war der erste Weiße, der diesen Trip gewagt hat.«
»Unglaublich. Wie, um alles in der Welt, haben Sie das gemacht?«
»Mit einem motorisierten Einbaum. In dieser Gegend ist das ist die einzige Transportmöglichkeit, wenn man nicht zu Fuß gehen will.«
»Wann haben Sie diese erstaunliche Reise unternommen?«
»Vor ungefähr acht Jahren.«
»Vor acht Jahren?«
»Ich hatte ein paar Probleme mit meinem Verleger. Gute Bücher kann man nämlich nicht einfach so aus dem Ärmel schütteln.« Dunn leerte sein Glas und winkte nach einer neuen Runde. »Ist ganz schön hart da oben.«
»Wirklich?«
Dies war offenbar Dunns Stichwort. Er lehnte sich zurück.
»Erst mal gibt's da die üblichen Moskitos, Milben, Spinnen und Stechmücken. Sie bringen einen zwar nicht um, können einem das Dasein aber ganz schon vergällen. Ich bin mal von einer Mücke in die Stirn gestochen worden. Hat sich zuerst angefühlt wie ein Moskitostich. Dann schwoll der Stich an und wurde rot. Hat verdammt wehgetan. Nach einem Monat ist er aufgeplatzt und hat zweieinhalb Zentimeter lange Maden bis auf den Boden gespuckt. Sobald man gestochen wird, ist es am besten, man lässt den Dingen ihren Lauf. Wenn man dieses Viehzeug rauszukriegen versucht, wird es nur noch schlimmer.«
»Ich hoffe doch sehr, dass dieses Erlebnis keine Auswirkungen auf Ihr Gehirn hatte«, meinte Tom.
Dunn ignorierte ihn. »Und dann gibt's noch die Chagas-Krankheit.«
»Die Chagas-Krankheit?«
»Trypanosoma cruzi. Ein Insekt, das die Krankheit in sich trägt, sticht einen - und scheißt gleichzeitig. Der Parasit lebt in der Scheiße, und wenn man dann an dem Stich kratzt, infiziert man sich. Man merkt erst zehn oder zwanzig Jahre später, dass mit einem was nicht stimmt. Zuerst schwillt der Bauch an. Dann wird man kurzatmig und kann nicht mehr schlucken. Schließlich schwillt das Herz an - und platzt. Es gibt kein Heilmittel dagegen.«
»Entzückend«, sagte Tom. Er hatte die Aufmerksamkeit des Kellners endlich auf sich gezogen. »Einen Whisky. Und zwar einen doppelten.«
Dunn schaute Tom an. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen.
»Haben Sie schon mal was von der Fer-de-lance gehört?«
»Kann ich nicht behaupten.« Es sah ganz so aus, als handle Dunn vorwiegend mit schauerlichen Dschungelgeschich-ten.
»Es ist die giftigste Schlange, die der Menschheit bekannt ist. Ein braungelbes Mistvieh. Die Einheimischen nennen sie Barba amarilla. Wenn sie noch jung ist, lebt sie auf Bäumen und Ästen. Stört man diese Schlange, lässt sie sich fallen. Ihr Biss bringt das Herz nach dreißig Sekunden zum Stillstand. Dann gibt's noch den Buschmeister, die größte Giftschlange der Welt. Sie ist vier Meter lang und so dick wie ein Oberschenkel. Sie ist nicht mal annähernd so gefährlich wie die Fer-de-lance. Wenn ein Buschmeister einen beißt, lebt man vielleicht noch zwanzig Minuten.«
Dunn kicherte und trank einen weiteren Schluck.
Sally murmelte etwas in der Art, das klänge ja alles absolut grauenhaft.
»Vom Zahnstocherfisch haben Sie aber doch sicher schon gehört? Das ist allerdings keine Geschichte für die Damen.«
Dunn warf Tom einen Blick zu und zwinkerte.
»Erzählen Sie doch mal«, sagte Tom. »Harte Sachen sind Sally nicht fremd.«
Sally blitzte ihn an.
»Er lebt in den Flüssen hier. Stellen Sie sich mal vor, Sie wollen ein Morgenbad nehmen. Der Zahnstocherfisch zischt stracks in Ihren Schniedel rein, fährt einen Satz Wi-derhaken aus und verankert sich in Ihrer Harnröhre.«
Toms Glas hielt auf halbem Weg zum Mund inne.
»Er blockiert die Harnröhre. Wenn man nicht verdammt schnell einen Chirurgen findet, platzt einem die Blase.«
»Einen Chirurgen?«, fragte Tom schwach.
Dunn lehnte sich zurück. »Genau.«
Toms Kehle war trocken geworden. »Was für 'ne Art Chirurg denn?«
»Einen Amputeur.«
Das Glas erreichte endlich Toms Lippen. Er trank einen Schluck, dann noch einen.
Dunn lachte laut. »Ich wette, von Pirañas, Leishmanias, Zitteraalen, Anakondas und so weiter haben Sie schon gehört.« Er winkte geringschätzig ab. »Ihre Gefährlichkeit wird unglaublich übertrieben. Pirañas machen sich nur über einen her, wenn man blutet. Anakondas sind hier im Norden ziemlich selten und fressen keine Menschen. Die Sümpfe in Honduras haben übrigens einen Vorteiclass="underline" In ihnen leben keine Blutegel. Man muss sich allerdings vor den Affenspinnen hüten ...«
»Zu schade, aber die Affenspinnen müssen wir an einem anderen Tag durchnehmen«, sagte Tom mit einem Blick auf seine Armbanduhr. Ihm fiel auf, dass Mr. Derek Dunns Hand sich unter dem Tisch befand - auf Sallys Knie.
»Wollen Sie es sich nicht noch mal überlegen, alter Knabe?
Dies ist kein Land für Memmen.«
»Überhaupt nicht«, erwiderte Tom. »Ich würde bloß lieber was über Ihre Begegnung mit dem Zahnstocherfisch erfahren. «
Dunn schaute ihn mit ernster Miene an. »Das ist aber eine eher altbackene Geschichte, mein Freund.«
»Tja«, sagte Sally aufgekratzt. »Haben Sie die Reise allein gemacht? Wir suchen nämlich einen Führer und würden gern wissen, ob Sie uns jemanden empfehlen können.«
»Wo wollt ihr denn hin, Leute?«
»Brus Laguna.«
»Da sind Sie als Touristen aber weit vom Schuss!« Dunn kniff die Augen zusammen. »Sie sind nicht zufällig Schrift-stellerin, was?«
Sally lachte. »Aber nein, ich bin Archäologin. Tom ist Pferdedoktor. Aber wir sind nur als Touristen hier. Wir erleben gern Abenteuer.«
»Archäologin? Hier gibt's nicht viele Ruinen. Im Sumpf kann man nämlich nicht bauen. Und im Inlandgebirge würde kein zivilisierter Mensch wohnen wollen. Oben in der Sierra Azul ist der Regenwald dichter als irgendwo sonst auf der Erde, und die Berge sind so steil, dass man nicht mal richtig rauf- und runterkrabbeln kann. Da gibt es im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern keinen Ort, der flach genug ist, um ein Zelt aufzustellen. Da muss man sich seinen eigenen Weg bahnen, und an einem harten Reisetag kann man froh sein, wenn man mehr als einen Kilometer schafft. Schlägt man sich mit der Machete eine Gasse, ist sie eine Woche später wieder völlig zugewachsen. Wenn Sie auf Ruinen aus sind, Sally, warum versuchen Sie's nicht lieber bei Copan? Vielleicht könnte ich Ihnen ja beim Abendessen etwas mehr darüber erzählen.«
Seine Hand war noch immer auf Sallys Knie, drückte und streichelte es.
»Ja, sicher«, sagte Sally. »Vielleicht. Kommen wir zu unserem Führer zurück. Können Sie uns jemanden empfehlen?«
»Einen Führer? Oh, ja. Don Orlando Ocotal ist der richtige Mann für Sie. Ein Tawahka-Indianer. Absolut zuverlässig.
Der würde einen nie reinlegen wie die anderen. Er kennt das Land wie seine Westentasche. Er war auf meiner letzten Reise dabei.«
»Wie können wir ihn finden?«
»Er wohnt oben am Río Patuca, in einem Ort namens Pito Solo. Das ist die letzte echte Ansiedlung am Fluss, bevor es in die großen Inlandsümpfe geht. Er liegt etwa sechzig bis siebzig Kilometer flussaufwärts von Brus entfernt. Bleiben Sie auf dem Hauptarm des Flusses, sonst kommen Sie da nie mehr lebend raus. In dieser Jahreszeit stehen die Wälder unter Wasser. Außerdem gibt es da 'ne Milliarde Seitenarme, die in alle möglichen Richtungen führen. Das Land da oben ist praktisch unerforscht, von den Sümpfen an der Sierra Azul bis runter zum Rio Guayambre. Vierzigtausend Quadratkilometer Terra incognita.«