»Sie nicht wollen das Boot da.«
Es war der Mann, den sie heute Morgen angeworben hatten.
»Und ob wir es wollen«, zischte Tom.
»Besser lassen Dummköpfe von Militär Boot nehmen. Hat zu viel Tiefgang. Läuft an jede Flussbiegung auf Grund. Sie mein Boot nehmen. Sie nicht auflaufen. Sie fliehen in die Richtung da.« Der Mann sprang wie eine Katze an Deck und löste die Vertäuung eines schlanken Einbaums mit einem 6-PS-Motor. »Steigen ein.«
»Kommen Sie mit?«, fragte Sally.
»Nein. Ich doofe Soldaten sagen, Sie mich beraubt.« Er löste die Benzintanks des Militärbootes und schaffte sie ins Heck seines eigenen. Außerdem gab er ihnen den Tank des dritten Bootes. Tom und Sally stiegen ein. Tom griff in die Tasche, um dem Mann etwas Geld zu geben.
»Jetzt nicht. Wenn sie mich durchsuchen und finden Geld, sie mich erschießen.«
»Wie können wir Sie bezahlen?«, fragte Tom.
»Sie mir später zahlen eine Million Dollar. Mein Name Manuel Waono. Ich immer hier.«
»Moment mal ... Eine Million?«
»Sie reiche Amerikaner. Sie kein Problem zahlen mir eine Million. Ich Manuel Waono, retten Ihr Leben. Sie jetzt gehen. Schnell.«
»Wie finden wir Pito Solo?«
»Letztes Dorf am Fluss.«
»Aber woher wissen wir ...«
Der Indianer hatte kein Interesse, weitere Erklärungen abzugeben. Er schob das Boot mit dem nackten Fuß ins Wasser, und es glitt in die Schwärze hinaus.
Tom tauchte die Schraube ins Wasser, pumpte Kraftstoff vor, betätigte die Luftklappe und riss an der Startleine. Der Motor brüllte augenblicklich auf. In der Stille klang das Geräusch schrill und laut.
»Abfahren!«, sagte Manuel vom Ufer aus.
Tom legte den Vorwärtsgang ein. Er drehte das Gas so weit wie möglich auf, und der blecherne Motor heulte und bebte. Das lange Holzkanu bewegte sich durchs Wasser.
Tom steuerte, Sally stand derweil am Bug und sondierte den vor ihnen Hegenden Fluss mit der Taschenlampe.
Keine Minute später schrie Manuel am Anlegeplatz: »Hil-fe! Ich bin beraubt worden! Mein Boot! Sie haben mein Boot gestohlen!«
»Herrgott, der hat aber nicht lange gewartet«, murmelte Tom.
Kurz darauf trieb ein aufgeregtes Stimmengewirr über den dunklen Fluss auf sie zu. Dann hüpfte der helle Strahl eines Scheinwerfers die Uferstraße hinunter und beleuchtete im Verein mit diversen Taschenlampen eine Menschen-ansammlung, die an der wackeligen Anlegestelle zusam-mengeströmt war. Eine Stimme schrie etwas in englischer Sprache. Es war Leutnant Vespán. »Drehen Sie um, sonst befehle ich meinen Leuten, das Feuer zu eröffnen!«
»Der blufft doch nur«, sagte Sally.
Tom war sich nicht ganz so sicher.
»Glauben Sie bloß nicht, dass ich scherze!«, schrie der Teniente.
»Der schießt doch nie«, meinte Sally.
»Eins ... zwei ...«
»Das ist doch nur ein Maulheld«, sagte Sally.
»Drei ...«
Stille.
»Na, was hab ich gesagt?«
Urplötzlich knallte eine Salve aus automatischen Waffen über das Wasser hinweg. Sie war entsetzlich laut und sehr nah.
»Scheiße!«, schrie Tom und warf sich zu Boden. Als das Boot vom Kurs abkam, griff er mit einer Hand schnell nach oben und packte den Motorgriff.
Sally stand noch immer unbeeindruckt am Bug. »Die schießen doch nur in die Luft, Tom. Die werden das Risiko nicht eingehen, uns zu treffen. Wir sind doch Amerikaner.«
Eine zweite Feuersalve ertönte. Diesmal hörte Tom deutlich, wie die Kugeln um sie herum ins Wasser klatschten.
Sally warf sich sofort neben ihm auf den Boden des Einbaums. »Gütiger Gott!«, schrie sie. »Die schießen wirklich auf uns!«
Tom schob den Steuerknüppel zur Seite und setzte zu einem jähen Ausweichmanöver an. Noch zweimal wurden kurze Salven abgefeuert. Diesmal hörte er das Jaulen der Kugeln über und links von ihnen. Die Soldaten richteten sich offenbar nach dem Motorengeräusch und schossen mit ihren Automatikwaffen über das Wasser hinweg. Sie hatten eindeutig die Absicht, sie zu töten.
Um den Schützen kein Ziel zu bieten, ließ Tom das Boot einen Zickzackkurs fahren. In jeder Pause hob Sally den Kopf und beleuchtete den Weg mit der Taschenlampe, damit sie sahen, wohin sie fuhren. Sobald die Flussbiegung hinter ihnen lag, würden sie - jedenfalls im Moment - sicher sein.
Wieder ertönte eine Salve. Diesmal schlugen mehrere Kugeln ins Dollbord ein und übersäten sie mit Splittern.
» Scheiße!«
»Wir kriegen euch schon!«, rief die nun schwächer klingende Stimme des Leutnants. »Wir finden euch, und dann wird es euch für den Rest eures kümmerlichen Lebens sehr Leid tun!«
Tom zählte bis zwanzig, dann riskierte er noch einmal einen Blick nach vorn. Das Boot hatte die Biegung nun fast erreicht und befand sich außerhalb der Schussweite. Er steuerte so nahe an die Mauer aus wild wuchernden Pflanzen heran, wie er sich nur traute. Als die Flussbiegung hinter ihnen lag, flackerten die Lichter der kleinen Anlegestelle noch einmal durch die Äste und verschwanden.
Sie hatten es geschafft.
Dann ertönte wieder eine, diesmal jedoch nur halbherzig abgefeuerte Salve. Im Dschungel links von ihnen hörte Tom ein Klicken und Klacken. Die Bäume hielten die Kugeln auf.
Dann erstarben die Geräusche. Der Fluss wurde still.
Tom half Sally auf die Beine. Ihr Gesicht war im matten Licht fast gespenstisch weiß. Er leuchtete mit der Taschenlampe um sich. Zu beiden Seiten des dunklen Flusses ragten dichte Wälder auf. Ein einzelner Stern funkelte kurz an einem freien Stück Himmel, und als sie sich weiterbeweg-ten, blinkte und flackerte er zwischen den Baumwipfeln.
Der kleine Motor heulte vor sich hin. Im Moment waren sie allein auf dem Fluss. Eine finstere, schwüle Nacht hüllte sie ein.
Tom nahm Sallys Hand und bemerkte, dass sie zitterte.
Erst da wurde ihm bewusst, dass es ihm nicht anders erging. Die Soldaten hatten auf sie geschossen. Sie hatten sie töten wollen. Er hatte dergleichen zigtausend Mal im Kino gesehen, aber wenn man selbst das Ziel abgab, erlebte man die Sache doch völlig anders.
Hinter der Dschungelwand ging der Mond unter. Finsternis hüllte den Fluss ein. Tom schaltete die Taschenlampe an, um zu sondieren, was vor ihnen lag. Dann umfuhr er im Wasser liegende Baumstümpfe und seichte Stellen. Eine größer werdende Wolke aus surrenden Moskitos um-schwirrte sie. Ihre Fahrt schien Tausende dieser Biester anzulocken.
»Sie haben wohl nicht zufällig etwas gegen Insekten in der Tasche?«, fragte Tom.
»Ganz im Gegenteil. Es ist mir gelungen, im Jeep mein Notfalltäschchen zu klauen. Ich hab's mir in die Hose geschoben.« Sally zog ein kleines Päckchen aus der riesigen Tasche an ihrem Oberschenkel und öffnete einen Reißverschluss. Sie kramte herum und beförderte diverse Gegenstände zu Tage: ein Fläschchen mit Wasserreinigungstablet-ten, einige wasserdicht verpackte Zündholzbriefchen, einen Packen Hundert-Dollar-Scheine, eine Landkarte, einen Schokoriegel, einen Pass und mehrere nutzlose Kreditkarten.
»Ich weiß nicht genau, was alles hier drin ist.«
Tom hielt die Taschenlampe, während sie ihre Habseligkeiten prüfte. Gegen Insekten hatte sie nichts dabei. Mit einem Fluch packte sie alles wieder ein. Während sie damit beschäftigt war, fiel ein Foto aus dem Täschchen heraus.
Tom richtete die Lampe darauf. Er sah einen äußerst stattli-chen jungen Mann mit dunklen Brauen und einem gemei-
ßelten Kinn. Der ernste Ausdruck, der seine dunklen Brauen furchte, seine straffen Lippen, seine Tweed-Jacke und die Art, wie er den Kopf neigte, vermittelten ihm, dass es sich um einen Mann handelte, der sich wirklich sehr ernst nahm.
»Wer ist das?«, fragte er.
»Ach«, sagte Sally, »das ist Professor Clyve.«