»Das ist Clyve? Wieso ist er noch so jung? Ich hab gedacht, er ist ein schusseliger alter Knabe, der Strickjacken trägt und Pfeife raucht.«
»Es würde ihn nicht freuen, das zu hören. Er ist der jüngste Professor in der Geschichte der Fakultät. Er ist mit sechzehn nach Stanford gegangen und hat mit neunzehn seinen Abschluss und mit zweiundzwanzig seinen Doktor gemacht. Er ist ein echtes Genie.« Sally schob das Foto sorgfäl-
tig wieder in das Täschchen.
»Warum tragen Sie ein Foto Ihres Professors mit sich rum?«
»Na«, sagte Sally, »weil wir verlobt sind. Hab ich Ihnen das nicht erzählt?«
»Nein.«
Sally musterte Tom neugierig. »Sie haben doch wohl kein Problem damit, oder?«
»Natürlich nicht.« Tom spürte, wie er errötete. Er hoffte, dass die Dunkelheit seine Verlegenheit verbarg. Es war ihm jedoch klar, dass Sally ihn in dem matten Licht anschaute.
»Sie haben so überrascht gewirkt.«
»Tja, ich war auch überrascht. Immerhin tragen Sie keinen Verlobungsring.«
»Professor Clyve hält nichts von solchen bürgerlichen Konventionen.«
»Er hatte nicht mal was dagegen, dass Sie einfach so eben mit mir verreisen?« Tom hielt inne. Ihm wurde bewusst, dass er genau das Falsche gesagt hatte.
»Glauben Sie etwa, ich müsste mir die Erlaubnis >meines Mannes< holen, bevor ich einen Ausflug mache? Oder wollen Sie mit dieser Frage etwa andeuten, dass ich sexuell nicht zuverlässig bin?« Sally neigte den Kopf schief und musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Tom schaute weg. »Es war 'ne dumme Frage.«
»Das finde ich auch. Ich habe Sie irgendwie für aufgeklär-ter gehalten.«
Tom beschäftigte sich mit der Steuerung des Bootes und versuchte, seine Verlegenheit und Verwirrung zu verbergen. Der Fluss war still. Die sumpfige Nachthitze strömte an ihnen vorbei. In der Finsternis schrie ein Vogel. In der darauf folgenden Stille hörte er ein Geräusch.
Tom schaltete sofort den Motor aus. Sein Herz pochte heftig. Da, schon wieder das Geräusch: das Spucken des Starters eines Außenborders, den jemand zog. Stille senkte sich über den Fluss. Ihr Boot fuhr mit abgestelltem Motor.
»Sie haben irgendwo Benzin aufgetrieben. Sie verfolgen uns.«
Das Boot glitt mit der Strömung allmählich zurück. Tom nahm einen Pfahl vom Bootsboden und schob ihn ins Wasser. Das Boot dümpelte leicht auf der Strömung, doch dann kam es zum Halten. Tom hielt es in der Strömung fest. Sie lauschten. Wieder das Spucken. Dann ein Aufbrüllen. Das Brüllen wurde zu einem leisen Summen. Es gab keinen Zweifeclass="underline" Es war das Geräusch eines Motorbootes.
Tom machte sich daran, den Motor wieder anzuwerfen.
»Nicht«, sagte Sally. »Sie werden es hören.«
»Mit Staken können wir ihnen nicht entkommen.«
»Mit dem Motor auch nicht. Mit dem 18-PS-Kahn haben sie uns in fünf Minuten eingeholt.« Sally richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Dschungelwand zu beiden Seiten. Das Wasser erstreckte sich zwischen die Bäume hinein und schien den Dschungel ersäuft zu haben. »Wir sollten uns lieber verstecken.«
Tom stakte den Einbaum auf den Rand des über-schwemmten Urwaldes zu. Da war eine schmale Einfahrt -
eine enge Wasserstraße, die so aussah, als sei sie in trocke-neren Zeiten ein Bachbett gewesen. Er stakte darauf zu, und das Boot rammte prompt gegen etwas: ein abgesoffener Baumstamm.
»Feierabend«, sagte Tom.
Das Wasser war ungefähr knietief, darunter lag mehr als ein halber Meter Schlamm, in dem sie in einem Aufwallen von Blasen versanken. Der faulige Gestank von Sumpfgas stieg auf. Das Boot ragte noch in den Fluss hinaus, wo man es sofort erspähen würde.
»Anheben und schieben.«
Sie mühten sich ab, um den Bootsbug über den Baumstamm zu wuchten und hinüberzuschieben. Dann kletterten sie wieder an Bord. Das Geräusch des Evinrude-Motors wurde lauter. Das Militärboot kam schnell den Fluss herauf.
Sally packte den zweiten Pfahl, und gemeinsam stakten sie nun immer tiefer in den überfluteten Wald hinein. Tom schaltete die Taschenlampe aus. Kurz darauf leuchtete ein starker Scheinwerfer durch die Bäume.
»Wir sind noch immer zu nah am Fluss«, sagte er. »Sie werden uns sehen.« Er versuchte zu staken, doch der Pfahl blieb im Schlamm stecken. Er riss ihn heraus und legte ihn auf den Bootsboden. Dann griff er nach ein paar herabhängenden Schlingpflanzen und nutzte sie dazu, um das Boot tiefer in den Wald zu ziehen, damit sie halbwegs in ein Dickicht aus Farnen und Büschen gelangten. Der Evinrude-Motor war nicht mehr weit weg. Im gleichen Moment, in dem Tom Sally packte und auf den Boden des Einbaums zog, blitzte der Scheinwerfer durch den Wald. Dann lagen sie nebeneinander. Sein Arm ruhte über ihr. Tom betete, dass die Soldaten den Motor ihres Bootes nicht sahen.
Die Geräusche des Militärbootes wurden sehr laut. Es hatte die Geschwindigkeit gedrosselt. Ein Scheinwerfer leuchtete den Bereich ab, wo sie sich versteckt hatten. Tom hörte das Knattern eines Walkie-Talkie und das Murmeln von Stimmen. Der Scheinwerfer erhellte den sie umgebenden Dschungel wie eine Filmkulisse - dann wanderte er langsam weiter. Die wunderbare Dunkelheit kehrte zurück. Das Motorengeräusch zog an ihnen vorbei und wurde leiser.
Tom setzte sich hin. Er sah gerade noch das Licht des Scheinwerfers, dann fuhr das Boot in eine Flussbiegung hinein. »Sie sind weg«, sagte er.
Sally setzte sich auf und schob sich das verhedderte Haar aus dem Gesicht. Die Moskitos hatten sich in einer dichten surrenden Wolke um sie versammelt. Tom spürte sie überall in seinen Haaren. Sie krabbelten ihm in die Ohren, versuchten in seine Nase einzudringen und liefen ihm über den Hals. Jeder Schlag tötete ein Dutzend, die auf der Stelle ersetzt wurden. Als er atmen wollte, atmete er Moskitos ein.
»Wir müssen hier raus.« Sally schlug auf sich ein.
Tom riss trockene Zweige von den Büschen ab, die sie umgaben.
»Was machen Sie da?«
»Ich zünde ein Feuer an.«
»Wo denn?«
»Werden Sie schon sehen.« Als er genügend Zweige gesammelt hatte, beugte er sich über die Bordwand und schaufelte Schlamm aus dem Sumpf empor. Am Boden des Einbaums formte er ihn zu einer Art Kuchen. Diesen bedeckte er mit Blättern. Obendrauf baute er ein kleines Tipi aus Ästchen und trockenen Blättern.
»Zündholz.«
Sally reichte ihm eines, und er zündete das Feuer an. Sobald es vor sich hin brannte, legte Tom einige grüne Blätter und Ästchen in die Flammen. Eine Rauchwolke bildete sich und stand in der unbeweglichen Luft. Tom riss ein großes Blatt von einem Busch neben ihnen ab und setzte es als Fächer ein, damit der Rauch Sally einhüllte. Der wütende Moskitoschwarm wurde zurückgetrieben. Der Qualm roch angenehm süß und würzig.
»Wie gerissen«, meinte Sally.
»Mein Vater hat es mir gezeigt, als wir mal im Norden von Maine einen Kanutrip machten.« Tom griff nach oben, riss noch mehr Blätter ab und warf sie ins Feuer.
Sally packte die Landkarte aus und untersuchte sie im Licht der Taschenlampe. »Sieht so aus, als hätte der Fluss jede Menge Seitenarme. Ich glaube, wir sollten einen davon nehmen, bis wir in Pito Solo sind.«
»Gute Idee. Aber ich glaube, von jetzt an müssen wir staken. Wir können das Risiko nicht eingehen, den Motor anzuwerfen.«
Sally nickte.
»Sie kümmern sich ums Feuer«, sagte Tom. »Ich stake, und irgendwann wechseln wir uns ab. Wir halten erst wieder an, wenn wir in Pito Solo sind.«
»Einverstanden.«
Tom schob das Boot in den Fluss zurück, stakte dicht am überfluteten Wald vorbei und lauschte nach dem Motorboot. Bald erreichten sie einen kleinen Seitenarm, der vom Hauptstrom abwich, und bogen ab.
»Ich hab irgendwie das Gefühl, dass Leutnant Vespán gar nicht die Absicht hatte, uns nach San Pedro Sula zurückzubringen«, sagte Tom. »Ich glaube, er wollte uns aus dem Hubschrauber werfen. Hätte er das Ersatzteil nicht gebraucht, wären wir längst tot.«