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19

Vernon schaute zu dem riesigen Blätterbaldachin hinauf und merkte, wie die Nacht sich über den Meambar-Sumpf hinabsenkte. Mit ihr kamen das Surren der Insekten und der dampfende Verwesungsmief, der aus dem schauerlichen endlosen Schlamm aufstieg, der sie umgab. Er trieb wie Giftgas zwischen den riesigen Baumstämmen her. Irgendwo aus den Tiefen des Sumpfes hörte er den fernen Schrei eines Tieres, dem das Gebrüll eines Jaguars folgte.

Es war nun schon der zweite Abend, an dem sie kein trockenes Land fanden, auf dem sie lagern konnten. Deswegen hatten sie den Einbaum - in der Hoffnung, die Blätter könnten sie vor dem pausenlos fallenden Regen schützen - unter einen Hain gigantischer Bromeliaden vertäut. Doch auch sie hielten den Regen nicht auf; sie kanalisierten den ständigen Wasserstrom so, dass man ihm nicht entgehen konnte.

Der Lehrer lag in eine feuchte Decke gewickelt am Boden des Einbaums im Regen und schmiegte sich an einen Stapel Ausrüstung. Er zitterte trotz der erstickenden Hitze. Vor seinem Gesicht war der sie in einen summenden Nebel hül-lende Moskitoschwarm besonders dicht. Vernon beobachtete das Getier, wie es ihm über die Lippen und Augen krabbelte. Er hob die Hand und verschmierte noch mehr von dem chemischen Zeug auf seinem Gesicht, doch das Unter-fangen war hoffnungslos. Wenn der Regen es nicht ab-wusch, dann eben der Schweiß.

Vernon schaute auf. Ihre beiden Führer hockten am Bug des Bootes, spielten im Licht der Taschenlampe Karten und besoffen sich. Sie waren seit dem Beginn ihrer Reise nur selten nüchtern gewesen. Vernon war ziemlich bestürzt, als er bemerkt hatte, dass eines der 35-Liter-Kunststofffässer kein Trinkwasser enthielt, sondern schwarz gebrannten Aguardiente.

Er beugte sich vor, schlang sich die Arme um die Schultern und wiegte sich hin und her. Es war noch nicht ganz dunkel. Die Nacht schien hier sehr langsam anzubrechen.

In den Sümpfen sah man nichts vom Sonnenuntergang. Das Licht wurde zuerst grün, dann blau, dann violett und schließlich schwarz. Bei Morgengrauen war es umgekehrt.

Selbst an sonnigen Tagen sah man keine Sonne, sondern nur dunkelgrüne Düsternis. Vernon sehnte sich verzweifelt nach ein wenig Licht und hätte gern frische Luft geatmet.

Nach vier Tagen des Herumziehens durch die Sümpfe hatten die Führer endlich zugegeben, dass sie sich verirrt hatten, dass sie umkehren mussten. Also hatten sie gewendet. Aber offenbar waren sie nur noch tiefer in den Sumpf eingedrungen. Dies war eindeutig nicht der Weg, über den sie gekommen waren. Mit den Führern konnte man nicht mehr reden. Obwohl Vernon leidlich gut Spanisch sprach und die Männer ein wenig Englisch beherrschten, waren sie meist viel zu betrunken, um sich in überhaupt irgendeiner Sprache zu verständigen. Als in den letzten Tagen immer deutlicher geworden war, dass sie sich verfranzt hatten, hatten die beiden dies immer lauter bestritten und umso mehr getrunken. Dann war der Lehrer krank geworden.

Vernon vernahm einen Fluch vom Bug her. Einer der Führer warf seine Karten hin und stand schwankend auf. Er hielt sein Gewehr in der Hand. Das Boot wankte.

»Cabrón!« Der andere Mann kam ebenfalls schwerfällig auf die Beine und zückte seine Machete.

»Aufhören!«, brüllte Vernon. Doch sie ignorierten ihn, wie immer. Sie fluchten und prallten in einem trunkenen Hand-gemenge aufeinander. Das Gewehr ging los, verletzte jedoch niemanden. Die beiden Führer grunzten und rauften weiter, dann legten sie ihren Streit plötzlich bei, setzten sich wieder hin, sammelten die verstreuten Spielkarten ein und teilten sie aus, als sei nichts geschehen.

»Was war das für ein Schuss?«, fragte der Lehrer und öffnete die Augen.

»Nichts«, sagte Vernon. »Sie saufen wieder.«

Der Lehrer fröstelte und zog die Decke enger um sich.

»Du solltest ihnen das Gewehr wegnehmen.«

Vernon sagte nichts. Den Versuch zu machen, die beiden zu entwaffnen, war Blödsinn, selbst wenn sie betrunken waren. Gerade dann.

»Die Moskitos«, hauchte der Lehrer mit zitternder Stimme.

Vernon schmierte noch mehr von dem chemischen Zeug auf seine Hände und rieb dann das Gesicht und den Hals des Lehrers vorsichtig ein. Der Lehrer seufzte erleichtert, schüttelte sich noch einmal und schloss wieder die Augen.

Vernon zog sein nasses Hemd aus, spürte den heftigen Regen auf seinem Rücken und lauschte den Geräuschen des Waldes und den fremdartigen Schreien der Paarung und Gewalt. Er dachte über den Tod nach. Er hatte den Eindruck, dass die Frage, die er sich sein Leben lang gestellt hatte, kurz vor der Beantwortung stand. Aber die Antwort würde unerwartet und ziemlich grauenhaft ausfallen.

20

Zwei Tage lag eine dichte, schützende Dunsthülle über dem Fluss. Tom und Sally stakten flussaufwärts, folgten sich dahinschlängelnden Seitenarmen und hielten eine strenge Politik des Schweigens ein. Sie waren Tag und Nacht unterwegs und wechselten sich beim Schlafen ab. Außer Sallys zwei Schokoriegeln hatten sie wenig zu essen, deswegen wurden sie rationiert. Unterwegs pflückten sie etwas Obst.

Von den sie verfolgenden Soldaten sahen sie keine Spur.

Tom hoffte allmählich, dass sie aufgegeben hatten und nach Brus zurückgekehrt waren. Vielleicht waren sie ja auch irgendwo stecken geblieben. Der Fluss wimmelte von Sand-und Schlammbänken sowie versunkenen Baumstämmen, an denen Boote hängen bleiben konnten. Waono hatte Recht gehabt.

Am Morgen des dritten Tages hob sich der Dunst allmählich und enthüllte die beiden tröpfelnden Wände aus wild wuchernder Dschungelvegetation, die den Schwarzwasser-Fluss säumten. Kurz darauf erspähten sie einen über dem Wasser aufragenden Pfahlbau mit geflochtenen Wänden und Reetdach. Dahinter tauchte ein Ufer mit Granitfindlin-gen und einem steilen Uferdamm auf - das erste trockene Land, das sie seit Tagen zu sehen bekamen. Am Ufer des Flusses wurde ein Anlegeplatz wie in Brus erkennbar - eine wackelige Plattform aus Bambusstäben, die an schlanken, in der Erde versunkenen Baumstämmen befestigt war.

»Was meinen Sie?«, fragte Tom. »Sollen wir anhalten?«

Sally stand auf. Auf der Plattform angelte ein Junge mit Pfeil und Bogen.

»Pito Solo?«

Doch der Junge hatte sie gesehen. Er rannte schon davon und ließ seine Rute zurück.

»Machen wir einen Versuch«, sagte Tom. »Wenn wir nichts zu essen kriegen, sind wir erledigt.« Er stakte zum Anlegeplatz.

Sie sprangen aus dem Boot, und die Plattform knackte und wankte beängstigend. Dahinter führte eine wackelige Planke auf eine steile Anhöhe, die aus dem überfluteten Urwald ragte. Kein Mensch weit und breit. Sie kletterten den schlüpfrigen Uferdamm hinauf, wobei sie ständig im Schlamm ausrutschten. Alles war klitschnass. Ganz oben befand sich eine kleine offene Hütte, in der ein Feuer brannte. Ein alter Mann saß in einer Hängematte und briet auf einem Holzspieß ein Tier. Tom beäugte es, wobei ihm der köstliche Duft des bratenden Fleisches in die Nase stieg.

Sein Appetit ließ etwas nach, als er feststellte, dass es sich um einen Affen handelte.

»Hola«, grüßte Sally.

»Hola«, sagte der Mann.

Sally sprach Spanisch. »Ist das hier Pito Solo?«

Langes Schweigen machte sich breit. Der Mann maß sie mit leerem Blick.

»Er spricht kein Spanisch«, sagte Tom.

»Wie kommen wir zum Dorf? Dónde? Wo?«

Der Mann deutete in den Dunst. Ein lauter tierischer Schrei ertönte, der Tom zusammenzucken ließ.

»Da ist ein Pfad«, sagte Sally.

Sie gingen den Pfad hinauf und erreichten kurz darauf den Ort. Er lag auf einer Anhöhe oberhalb des über-schwemmten Regenwaldes und war eine bunt zusammen-gewürfelte Ansammlung von Lehmflechtwerkhütten mit Blech- oder Reetdächern. Hühner ergriffen die Flucht, als sie sich näherten. Magere Hunde pirschten an den Haus-wänden entlang und beäugten sie mit argwöhnischen Blik-ken. Sie schlenderten durch das Dorf, das einen verlassenen Eindruck machte und ebenso plötzlich, wie es angefangen hatte, an einer soliden Dschungelmauer endete.