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Sally schaute Tom an. »Was jetzt?«

»Wir klopfen.« Tom wählte willkürlich eine Tür aus und klopfte an.

Stille.

Tom hörte ein Rascheln und schaute sich um. Zuerst sah er nichts, dann wurde ihm klar, dass ihn hundert dunkle Augen aus dem Blättergewirr des Urwaldes musterten. Es waren ausnahmslos Kinder.

»Wenn ich doch noch Süßigkeiten hätte«, sagte Sally.

»Nehmen Sie einen Dollar.«

Sally zückte einen Dollar. »Hallo? Möchte jemand einen amerikanischen Dollar haben?«

Ein Schrei ertönte, dann stürmten hundert Kinder aus dem Dschungelgewoge hervor. Sie schrien und johlten und streckten die Hände aus.

»Wer spricht Spanisch?« Sally hob den Dollar in die Luft.

Alle krakeelten gleichzeitig auf Spanisch los. Ein älteres Mädchen trat aus dem Gewimmel hervor. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte es mit großartiger Körperhaltung und Würde. Sie war etwa dreizehn, hübsch, trug ein T-Shirt mit ineinander verlaufenden Farben, Shorts und goldene Ohrringe.

Dicke braune Zöpfe fielen auf ihre Schultern.

Sally gab ihr den Dollar. Ein lautes und enttäuschtes Ahhh ging durch die Menge. Doch die Kinder schienen es mit Humor zu nehmen. Endlich war das Eis gebrochen.

»Wie heißt du?«

»Marisol.«

»Was für ein schöner Name.«

Das Mädchen lächelte.

»Wir suchen Don Orlando Ocotal. Kannst du uns zu ihm bringen?«

»Er ist vor über einer Woche mit den Yanquis weggegan-gen.«

»Mit welchen Yanquis?«

»Mit einem großen wütenden Gringo. Er hatte überall Stiche im Gesicht. Und mit einem anderen. Er hat immer gelä-chelt und hatte goldene Ringe an den Fingern.«

Tom fluchte und schaute Sally an. »Offenbar hat Philip unseren Führer vor uns erwischt.« Er wandte sich Marisol zu. »Haben sie gesagt, wohin sie wollen?«

»Nein.«

»Gibt es Erwachsene hier im Dorf? Wir wollen flussaufwärts und brauchen einen Führer.«

»Ich kann Sie zu meinem Großvater bringen«, sagte das Mädchen. »Don Alfonso Boswas. Er ist der Bürgermeister hier. Er weiß alles.«

Sie folgten ihr. Marisol wirkte sehr selbstbewusst und fähig, ein Eindruck, den ihre aufrechte Körperhaltung noch verstärkte. Als sie an den schiefen Hütten vorbeigingen, drangen Kochdünste in Toms Nase, die ihn vor Hunger beinahe ohnmächtig werden ließen. Marisol führte sie zur mehr oder weniger schlimmsten Hütte des Dorfes, einem windschiefen Haufen aus dünnen Stämmen, zwischen denen sich fast kein Lehm mehr befand. Sie ragte an einer erdigen Fläche auf, die als Dorfplatz diente. In der Mitte wuchsen einige verwahrloste Zitronen- und Bananenbäu-me.

Vor der Tür machte Marisol ihnen Platz, und sie traten ein. In der Mitte der Hütte saß ein alter Mann auf einem für ihn zu niedrigen Hocker. Seine knochigen Knie durchsta-chen die riesigen Löcher in seiner Hose. Auf seinem fast kahlen Schädel standen ein paar Strähnen weißen Haars in alle Richtungen ab. Er rauchte eine Maiskolbenpfeife, deren Qualm die Hütte mit einem teerartigen Geruch erfüllte.

Neben ihm lag eine Machete auf dem Boden. Er war klein und trug eine Brille, die seine Augen so sehr vergrößerte, dass er wie ständig überrascht wirkte. Es war kaum zu fassen, dass er der Ortsvorstand sein sollte. Er sah eigentlich eher aus wie der ärmste Dorfbewohner.

»Don Alfonso Boswas?«, fragte Tom.

»Wer?«, schrie der Greis. Er riss die Machete an sich und schwenkte sie vor Toms Nase herum. »Boswas? Dieser Lump? Er ist weg. Man hat ihn längst aus dem Dorf gejagt.

Dieser Tunichtgut lebt schon viel zu lange. Er hat den ganzen Tag lang nur rumgesessen, Pfeife geraucht und den Mädchen hinterhergeschaut, die an seiner Hütte vorbeige-gangen sind.«

Tom musterte den Mann überrascht, dann drehte er sich um und suchte nach Marisol. Sie stand im Türrahmen und unterdrückte ein Grinsen.

Der Greis legte die Machete hin und lachte. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Ich bin Don Alfonso Boswas. Setzen Sie sich. Ich bin nur ein alter Mann, der gern Witze erzählt.

Ich habe zwanzig Enkel und sechzig Urenkel, aber die kommen nie vorbei, um mich zu besuchen. Also muss ich den Fremden Witze erzählen.« Er sprach ein eigenartig gesto-chenes und altmodisches Spanisch.

Tom und Sally zogen sich zwei wacklige Hocker heran.

»Ich bin Tom Broadbent«, sagte Tom. »Und das ist Sally Colorado.«

Der Greis stand auf, verbeugte sich vornehm und setzte sich wieder hin.

»Wir suchen einen Führer. Wir wollen den Fluss hinauf.«

»Hm«, machte Don Alfonso. »Urplötzlich sind alle Yanquis verrückt darauf, flussaufwärts zu fahren und sich im Meambar-Sumpf zu verlaufen, wo sie von Anakondas gefressen werden. Warum?«

Tom zögerte. Die unerwartete Frage verblüffte ihn.

»Wir wollen seinen Vater finden«, sagte Sally. »Maxwell Broadbent. Er ist vor etwa einem Monat mit einer Gruppe von Indianern mit Einbäumen hier durchgekommen. Sie hatten vermutlich viele Kisten bei sich.«

Der Greis schaute Tom aus zusammengekniffenen Augen an. »Kommen Sie her, mein Junge.« Er streckte seine leder-artige Hand aus, packte Toms Arm mit einem schraub-stockähnlichen Griff und zog ihn an sich. Er musterte ihn eingehend, wobei die Brillengläser seine Augen grotesk vergrößerten.

Tom hatte das Gefühl, der Greis blicke in seine Seele.

Nachdem Don Alfonso ihn eine Weile begutachtet hatte, ließ er ihn los. »Ich sehe, dass Sie und Ihre Gattin hungrig sind. - Marisol!« Er sagte etwas in der Sprache der Indianer.

Marisol verschwand. Don Alfonso wandte sich wieder Tom zu. »Dann war das also Ihr Vater, der hier vorbeigekommen ist, was? Sie sehen eigentlich gar nicht verrückt aus.

Normalerweise ist nämlich ein Junge, der einen verrückten Vater hat, ebenfalls verrückt.«

»Meine Mutter war normal«, erklärte Tom.

Don Alfonso lachte brüllend und schlug sich aufs Knie.

»Das ist gut! Sie sind also auch ein Witzbold. Ja, sie haben hier angehalten, um Proviant zu kaufen. Der Weiße war wie ein Bär. Seine Stimme trug fast einen Kilometer weit.

Ich habe ihm gesagt, dass es verrückt ist, sich in den Meambar-Sumpf zu wagen, aber er hat nicht auf mich gehört. Er muss in Amerika ein großer Häuptling sein. Wir haben einen lustigen Abend miteinander verbracht und viel gelacht. Dann hat er mir das hier geschenkt.«

Er griff hinüber, wo einige zusammengefaltete Jutesäcke lagen, kramte mit den Händen darin herum und hielt Tom und Sally dann etwas hin. Die Sonne beleuchtete den Gegenstand. Er glitzerte in der Farbe von Taubenblut. Ein vollkommener Stern erstrahlte in ihm. Don Alfonso legte Tom den Gegenstand in die Hand.

»Ein Sternrubin«, keuchte Tom. Es war ein Edelstein aus der Sammlung seines Vaters. Er war ein kleines, wenn nicht gar ein großes Vermögen wert. Tom empfand plötzlich einen Ansturm von Gefühlen: Es war typisch für seinen Vater, jemanden zu beschenken, den er gut leiden konnte.

Einst hatte er einem Bettler fünftausend Dollar geschenkt, weil dieser ihn mit einer witzigen Bemerkung erheitert hatte.

»Ja, ein Rubin. Er wird es meinen Enkeln ermöglichen, nach Amerika auszuwandern.« Don Alfonso versteckte den Stein sorgfältig wieder zwischen den schmutzigen Jutesäk-ken. »Warum macht Ihr Vater so etwas? Als ich es aus ihm rauskriegen wollte, war er so ausweichend wie ein Coati.«

Tom warf Sally einen kurzen Blick zu. Wie sollte er es nur erklären? »Wir wollen ihn finden. Er ist ... krank.«

Bei diesen Worten riss Don Alfonso die Augen auf. Er nahm die Brille ab, polierte sie mit einem schmutzigen Lumpen und setzte sie schmutziger als zuvor wieder auf.