Alle wollten einen Blick auf den Scharlatan werfen, der an den Kontrollknöpfen saß.
Aber so würde es nicht laufen. Jedenfalls nicht, solange er noch atmen konnte. Sollten sie doch daherplappern und Häme verbreiten. Er würde schweigen. Und wenn dann der Codex eintraf und der Wert ihrer Aktie sich verdoppelte, verdreifachte, vervierfachte ...
Skiba schaute auf seine Armbanduhr. Noch zwei Minuten.
Wenn man davon absah, dass der Verschlüssler Hausers Stimme wie Donald Duck klingen ließ, war die Satelliten-verbindung so deutlich, als riefe er aus dem Nebenraum an.
Trotzdem waren Hausers großkotziges Gehabe und seine unverschämte Vertrautheit unüberhörbar.
»Wie geht's Ihnen, Lewis?«, fragte er.
Skiba ließ einen frostigen Moment verstreichen, bevor er antwortete: »Wann kriege ich den Codex?«
»Also, Skiba, die Lage ist folgende: Vernon, der mittlere der Brüder, hat sich, wie ich's vorhergesehen habe, in den Sümpfen verirrt, dieser Arsch, und wird möglicherweise bald seinen Abschied einreichen. Tom, der jüngste ...«
»Ich habe mich nicht nach den Brüdern erkundigt, sondern nach dem Codex. Die Brüder sind mir gleichgültig.«
»Sie dürften Ihnen aber nicht gleichgültig sein. Sie kennen doch den Spielstand. Na ja, ich wollte gerade sagen, dass es Tom gelungen ist, ein paar Soldaten zu entkommen, die ich ihm auf den Hals gehetzt hatte. Sie verfolgen ihn jetzt flussaufwärts. Vielleicht erwischen sie ihn, bevor er das Sumpfgebiet erreicht, aber es hat sich ja nun erwiesen, dass er findiger ist, als ich dachte. Wenn er aufgehalten werden muss, wäre das andere Ende des Sumpfes der ungünstigste Ort dafür. Ich kann nicht riskieren, seine und die Fährte der Frau in den Bergen zu verlieren, die danach kommen. Können Sie mir folgen?«
Skiba drehte die hochnäsige Quäkstimme leiser. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er je einen Menschen so gehasst hatte wie in diesem Moment Hauser.
»Das zweite Problem ist Philip, der älteste Sohn. Ich werde mich irgendwann seiner annehmen müssen. Ich brauche ihn noch eine Weile, aber wenn er seine Schuldigkeit getan hat, tja, dann können wir nicht zulassen, dass er plötzlich den Hals reckt - haben Sie das eigentlich gesagt oder ich? -
und behauptet, er sei der Eigentümer des Codex. Das Glei-
che gilt für Vernon und Tom. Und auch für die Frau, mit der Tom unterwegs ist - Sally Colorado.«
Ein langes Schweigen entstand.
»Sie verstehen doch wohl, was ich sage, oder?«
Skiba wartete ab. Er versuchte sich zu beherrschen. Diese Gespräche waren eine unglaubliche Zeitverschwendung.
Und nicht nur das: Sie waren auch gefährlich.
»Sind Sie noch da, Lewis?«
»Warum erledigen Sie nicht einfach Ihren Auftrag?«, sagte Skiba wütend. »Was sollen diese Anrufe? Sie haben den Auftrag, mir den Codex zu liefern. Wie Sie es tun, ist Ihre Sache, Hauser.«
Hausers Kichern schwoll zu einem Lachen an. »Ach, das ist ja reizend. Doch so leicht kommen Sie mir nicht davon.
Sie haben von Anfang an gewusst, was passieren wird. Sie haben gehofft, dass ich die Sache allein regle. So läuft es aber nicht. Ich räume Ihnen keine Chance ein, in dieser Hinsicht irgendetwas abzustreiten. Wenn da was schief geht, werden Sie nicht das Fußvolk abservieren und einen Kuhhandel mit der Justiz machen. Wenn die Zeit reif ist, werden Sie mir sagen, dass ich sie umlegen soll. So läuft das und nicht anders. Und das wissen Sie genau.«
»Hören Sie sofort mit diesem Gerede auf. Es wird niemand ums Leben kommen.«
»Ach, Lewis, Lewis ...«
Skiba wurde schlecht. Er spürte, dass die Übelkeit sich wellenförmig in seinem Magen ausbreitete. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Aktie schon wieder sank. Die SEC hatte den Wertpapierhandel nicht nur zum Stillstand gebracht, sie hatte das Unternehmen auch in den Wind gedrängt. Zwanzigtausend Angestellte waren von Skiba abhängig; Millionen Kranke brauchten seine Medikamente; er hatte Frau und Kinder, ein Haus, zwei Millionen eigene Optionen und sechs Millionen Anteile ...
Skiba vernahm etwas aus dem Hörer, das wie eine Hupe klang - es war eindeutig Gelächter. Er fühlte sich plötzlich sehr schwach. Wieso hatte er es nur so weit kommen lassen? Wie war es diesem Menschen nur gelungen, sich seiner Kontrolle zu entziehen?
»Sie bringen niemanden um«, sagte er. Er musste schlucken, bevor er den Satz zu Ende bringen konnte. Er würde sich jeden Moment übergeben. Es gab eine legale Möglichkeit, das Geschäft zu machen. Broadbents Söhne konnten den Codex dort herausholen, dann konnte er mit ihnen verhandeln und ein Abkommen mit ihnen treffen ... Aber er wusste, dass es nicht dazu kommen würde, solange Lampe unter einem Wust von Gerüchten und Ermittlungsverfah-ren begraben war und der Wert der Aktie in den Keller ging ...
Hausers Stimme klang nun freundlich. »Hören Sie, ich weiß, dass es eine harte Entscheidung ist. Wenn Sie es wirklich nicht über sich bringen können, kehre ich um. Dann vergessen wir die ganze Sache mit dem Codex. Wirklich.«
Skiba schluckte. Der Klumpen in seiner Kehle fühlte sich an, als wolle er ihn ersticken. Seine drei flachsblonden Söhne schauten ihn aus den Silberrahmen auf dem Schreibtisch an.
»Sprechen Sie das Wort einfach aus, und wir machen kehrt. Dann blasen wir die Sache eben ab.«
»Es wird niemand umgebracht.«
»Hören Sie, wir brauchen jetzt noch gar keine Entscheidung zu fällen. Überschlafen Sie die Sache doch erst mal.«
Skiba wankte auf die Beine. Er machte einen Versuch, den mit Leder bezogenen und mit Goldgriffen versehenen Papierkorb zu erreichen, doch er kam nur bis an den Kamin.
Während sein Erbrochenes in den Flammen knisterte und zischte, kehrte er ans Telefon zurück und hob es ans Ohr, um etwas zu sagen, doch dann überlegte er es sich anders und legte mit zittriger Hand auf. Seine Hand schlingerte zur obersten Schublade des Schreibtisches und tastete nach der kühlen Kunststoffflasche.
22
Eine halbe Stunde später sah Tom Bewegung im Urwald.
Eine alte Frau mit Kopftuch schlenderte über den Pfad. Marisol eilte mit einem Schluchzen zu ihr hin, dann sprachen sie schnell in ihrer eigenen Sprache miteinander.
Marisol wandte sich mit einem deutlich erleichterten Blick zu Tom und Sally um. »Es ist, wie ich gesagt habe. Die Soldaten haben nur in die Luft geschossen, um uns Angst zu machen. Dann sind sie gegangen. Wir haben sie überzeugt, dass Sie nicht bei uns im Dorf waren und nicht vorbeigekommen sind. Sie sind wieder flussabwärts gefahren.«
Als sie zur Hütte kamen, stand Don Alfonso im Freien, schmauchte seine Pfeife und wirkte so unbekümmert, als sei nichts geschehen. Sobald er sie sah, verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln. »Chori! Pingo! Kommt her. Kommt raus und begrüßt unsere neuen Yanqui-Bosse! - Chori und Pingo sprechen kein Spanisch. Sie sprechen nur Tawahka, aber ich brülle sie immer auf Spanisch an, um meine Autorität zu demonstrieren. Das müssen Sie übrigens genauso machen.«
Zwei prächtig gebaute Kerle kamen geduckt aus der Hütte. Sie waren von der Taille aufwärts nackt, und ihre muskulösen Leiber glänzten ölig. Die Arme des Mannes, der Pingo hieß, wiesen westlich wirkende, sein Gesicht indianische Tätowierungen auf. Er hielt eine meterlange Machete in der Hand. Chori trug ein altes Springfield-Gewehr über der Schulter. In der Hand hielt er eine Pulaski-
Feuerwehraxt.
»Wir werden das Boot jetzt beladen. Wir müssen das Dorf so schnell wie möglich verlassen.«
Sally schaute Tom kurz an. »Offenbar ist Don Alfonso doch unser Führer.«
Als Chori und Pingo die Vorräte und die Ausrüstung zum Flussufer brachten, leitete Don Alfonso sie schreiend und gestikulierend an. Ihr Einbaum war wieder da und sah aus, als habe man ihn nie von der Stelle bewegt. Eine halbe Stunde später war alles eingeladen. Die Ausrüstung ruhte als großer Haufen in der Mitte des Bootes und war unter einer Kunststoffplane festgezurrt. Inzwischen hatte sich eine Menschenmenge am Ufer versammelt. Kochfeuer wurden angezündet. Sally wandte sich an Marisol. »Du bist ein wunderbares Mädchen«, sagte sie. »Du hast uns das Leben gerettet. Ist dir eigentlich klar, dass du noch viel im Leben erreichen kannst?« Marisol schaute sie ruhig an. »Ich möchte nur eines erreichen.«