Er sah, dass die Frage sein Gegenüber verblüffte. Hauser überging sie mit einem Lachen. Dann warf er den Zigarrenstummel ins Feuer und stand auf. »Das kriegen Sie noch früh genug raus.«
24
Der Einbaum schob sich durch das dicke schwarze Wasser.
Der Motor heulte angestrengt. Der Fluss hatte sich geteilt und war zu einem Labyrinth aus Seitenarmen und riesigen stillen Teichen voll von offen liegendem, schwarzem, stin-kendem, schauerlich aussehendem Schlamm geworden.
Wohin Tom auch blickte, sah er wirbelnde Insektenschwärme. Pingo stand mit freiem Oberkörper am Bug und schwenkte eine riesige Machete, mit der er hin und wieder auf Schlingpflanzen einhieb, die übers Wasser hingen. Die Seitenarme waren oft zu seicht, um den Motor zum Einsatz zu bringen. In solchen Fällen holte Chori ihn ein und stakte.
Don Alfonso blieb auf seinem üblichen Platz, dem von einer Leinwandplane bedeckten Ausrüstungsstapel. Er saß mit verschränkten Beinen da, mimte den Weisen, paffte hektisch seine Pfeife und lugte nach vorn. Pingo war schon mehrmals von Bord gegangen, um halb versunkene Baumstämme zu zerlegen, damit sie weiterfahren konnten.
»Was sind das für teuflische Insekten?«, rief Sally und schlug wild um sich.
»Tapirfliegen«, sagte Don Alfonso. Er griff in die Tasche und hielt ihr eine geschwärzte Maiskolbenpfeife hin. »Sie sollten vielleicht mit dem Rauchen anfangen, Señorita; das ist den Insekten lästig.«
»Nein, danke. Rauchen erzeugt Krebs.«
»Ganz im Gegenteil. Rauchen ist sehr gesund. Es führt zu einer guten Verdauung und einem langen Leben.«
»Schön.«
Als sie tiefer in den Sumpf vorstießen, schien sich die Vegetation von allen Seiten an sie zu drängen und bildete mauerartige Schichten aus glänzenden Blättern, Farnen und Schlingpflanzen. Die Luft war tot und dick und roch nach Methan. Das Boot schob sich wie durch heiße Suppe voran.
»Woher wissen Sie, dass dies der Weg ist, den mein Vater genommen hat?«, fragte Tom.
»Im Meambar-Sumpf gibt es viele Pfade«, sagte Don Alfonso, »aber nur einen, der hindurchführt. Ich, Don Alfonso, kenne diesen Weg, und Ihr Vater hat ihn auch gekannt.
Ich kann die Zeichen lesen.«
»Und was besagen sie?«
»Dass drei Reisegruppen vor uns sind. Die erste kam vor einem Monat hier durch. Die zweite und die dritte sind nur wenige Tage voneinander getrennt. Sie waren vor etwa einer Woche hier.«
»Woran können Sie das alles erkennen?«, fragte Sally.
»Ich lese es im Wasser. Ich sehe eine Kerbe an einem versunkenen Baumstamm. Ich sehe einen Schnitt in einer Schlingpflanze. Ich sehe eine Stakenmarkierung auf einer Unterwassersandbank oder eine Rinne, die ein Kiel an einer seichten schlammigen Stelle hinterlassen hat. In diesem toten Wasser erhalten sich Markierungen dieser Art wochenlang. «
Sally deutete auf einen Baum. »Schauen Sie mal, da drüben steht ein Gumbo-Limbo-Baum - Bursera simuraba. Die Mayas haben seinen Saft gegen Mückenstiche eingesetzt.«
Sie wandte sich zu Don Alfonso um. »Lassen Sie uns hin-fahren und etwas von dem Zeug sammeln.«
Don Alfonso nahm die Pfeife aus dem Mund. »Mein Großvater hat den Saft dieses Gewächses immer gesammelt. Wir nennen sie Lucawa.« Er musterte Sally mit neuem Respekt.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Curandera sind.«
»Bin ich eigentlich auch nicht«, sagte Sally. »Ich habe aber in meiner Zeit auf dem College eine gewisse Zeit im Norden verbracht und bei den Mayas gelebt. Ich habe ihre Medizin studiert. Ich bin Ethnopharmakologin.«
»Ethnopharmakologin? Das klingt nach einem sehr bedeu-tenden Beruf für eine Frau.«
Sally runzelte die Stirn. »In unserer Zivilisation können Frauen das Gleiche tun wie Männer. Und umgekehrt.«
Don Alfonsos Brauen zuckten hoch. »Das glaube ich nicht.«
»Es stimmt aber«, sagte Sally trotzig.
»Gehen die Frauen in Amerika auf die Jagd - und die Männer kriegen die Kinder?«
»Das habe ich doch nicht gemeint.«
Don Alfonso schob sich das Mundstück der Pfeife mit einem triumphierenden Lächeln zwischen die Zähne. Er hatte eindeutig gewonnen. Er zwinkerte Tom übertrieben zu.
Sally warf Tom einen Blick zu.
Ich hab doch gar nichts gesagt, dachte Tom beleidigt.
Chori steuerte das Boot längsseits an einen Baum. Sally versetzte der Rinde einen Hieb mit ihrer Machete und schälte einen vertikalen Rindenstreifen ab. Der Saft begann sofort in rötlichen Tröpfchen auszutreten. Sie kratzte ein wenig davon ab, rollte ihre Hosenbeine hoch und schmierte sich das Zeug auf ihre Stiche. Dann rieb sie ihren Hals, ihre Gelenke und ihre Handrücken ein.
»Sie sehen ja schrecklich aus«, sagte Tom.
Sally kratzte mit der Machete noch mehr von dem klebri-gen Saft ab und hielt sie ihm hin. »Tom?«
»An meinen Leib lasse ich das Zeug nicht.«
»Kommen Sie gefälligst her.«
Tom machte einen Schritt auf Sally zu, und sie rieb es in seinen grässlich zerstochenen Nacken ein. Das Jucken und das brennende Gefühl nahmen ab.
»Na, wie ist es?«
Tom bewegte den Hals. »Klebrig, aber gut.« Das Gefühl ihrer kühlen Hände an seinem Hals gefiel ihm.
Sally reichte ihm die Machete mit dem Saftklumpen. »Bei-ne und Arme können Sie sich selbst einreiben.«
»Danke.« Tom folgte ihrem Rat. Die Wirkung überraschte ihn.
Auch Don Alfonso nahm etwas von dem Saft. »Es ist wirklich bemerkenswert! Eine Yanqui-Frau, die die medizinischen Geheimnisse der Pflanzen kennt. Eine echte Curandera. Da lebe ich nun schon hunderteinundzwanzig Jahre und weiß noch immer nicht alles.«
Am Nachmittag passierten sie den ersten Felsen, den Tom seit Tagen zu Gesicht bekommen hatte. Dahinter fiel gefil-tertes Sonnenlicht auf eine überwachsene Lichtung, die sich zu einer hoch liegenden Insel auswuchs.
»Hier lagern wir«, gab Don Alfonso bekannt.
Sie steuerten den Einbaum längsseits an den Felsen und vertäuten ihn. Pingo und Chori sprangen mit der Machete in der Hand an Land, balancierten über Felsen und mähten die neuen Gewächse nieder. Don Alfonso schlenderte umher, untersuchte den Boden, scharrte mit den Füßen und hob hier und da eine Ranke oder ein Blatt auf.
»Es ist erstaunlich«, sagte Sally und schaute sich um.
»Hier wächst Zorillo. Stinktierwurzel, eine der wichtigsten Pflanzen, die die Mayas verwendet haben. Sie haben aus den Blättern ein Kräuterbad gemacht und die Wurzel gegen Schmerzen und Geschwüre eingesetzt. Sie nennen es Pay-che. Und da wächst auch etwas Suprecayo. Und da drüben ist ein Seweetia panamensis-Baum. Es ist wirklich erstaunlich.
Hier existiert ein einmaliges kleines Ökosystem. Hat jemand was dagegen, wenn ich ein bisschen botanisieren gehe?«
»Fühlen Sie sich nur ganz wie zu Hause«, sagte Tom.
Sally ging in den Wald, um weitere Pflanzen zu sammeln.
»Sieht so aus, als hätte hier vor uns schon jemand gelagert«, sagte Tom zu Don Alfonso.
»Ja. Diese große Lichtung wurde erst vor etwa einem Monat freigelegt. Ich sehe eine Feuerstelle und die Überreste eines Unterstandes. Vor ungefähr einer Woche waren zum letzten Mal Menschen hier.«
»Das alles ist in einer Woche gewachsen?«
Don Alfonso nickte. »Der Wald schätzt keine freien Stellen.« Er stocherte in den Resten eines Lagerfeuers herum, dann hob er etwas auf und reichte es Tom. Es war eine an-geschimmelte und halb zerfallene Zigarrenbauchbinde der Marke Cuba Libre.
»Die Marke meines Vaters«, sagte Tom und schaute sie sich genauer an. Er hatte ein eigenartiges Gefühl. Sein Vater war hier gewesen, hatte vielleicht genau an dieser Stelle gelagert, eine Zigarre geraucht und diesen winzigen Hinweis hinterlassen. Tom steckte die Bauchbinde in die Tasche und fing an, Feuerholz zu sammeln.