»Bevor Sie einen Ast aufheben«, riet Don Alfonso ihm,
»sollten Sie mit einem Stock drauf hauen, um die Ameisen, Schlangen und Veinte cuatros abzuschlagen.«
»Veinte cuatros?«
»Ein Insekt, das wie eine Termite aussieht. Wir nennen es Veinte cuatro, Vierundzwanziger, weil man sich, nachdem es einen gebissen hat, vierundzwanzig Stunden nicht bewegen kann.«
»Wie schön.«
Eine Stunde später sah Tom Sally mit einem langen Pfahl auf der Schulter aus dem Dschungel schlendern. An dem Pfahl hingen Pflanzenbündel, Baumrinde und Wurzeln.
Don Alfonso schaute von dem Papagei auf, den er in einem Topf köchelte, und musterte sie.
»Curandera, Sie erinnern mich an meinen Großvater Don Cali. Auch er kam jeden Tag wie Sie aus dem Wald zurück.
Allerdings sind Sie hübscher als er. Er war alt und faltig, doch Sie sind straff und üppig.«
Sally beschäftigte sich mit ihren Pflanzen und reihte die Kräuter und Wurzeln auf einen Stock, um sie am Feuer zu trocknen. »Hier gibt es eine unglaubliche Pflanzenvielfalt«, sagte sie aufgeregt zu Tom. »Julian wird sich wirklich freuen.«
»Wie schön.«
Toms Aufmerksamkeit richtete sich auf Chori und Pingo.
Die beiden bauten einen Unterstand. Don Alfonso rief ihnen Anweisungen zu und überhäufte sie mit Kritik. Die Männer fingen an, indem sie sechs stämmige Pfähle in den Boden rammten und sie dann mit einem Rahmen aus flexi-blen Ästen versahen. Darüber spannten sie die Kunststoffplanen. Die Hängematten wurden zwischen den Pfählen aufgehängt und mit Moskitonetzen versehen. Ein letztes Stück Plane wurde an der Decke angebracht, damit Sally einen Raum für sich hatte.
Als Chori und Pingo fertig waren, traten sie beiseite. Don Alfonso inspizierte den Unterstand mit kritischen Blicken, dann nickte er und wandte sich um. »Da, bitte - ein Haus, wie man es in Amerika auch nicht besser bauen könnte.«
»Beim nächsten Mal«, sagte Tom, »gehe ich Chori und Pingo zur Hand.«
»Wie Sie wollen. Die Curandera hat ihr eigenes Schlafquar-tier, das man für einen zusätzlichen Gast auch erweitern kann - falls sie Gesellschaft haben möchte.« Der Greis zwinkerte Tom übertrieben zu, und Tom spürte, wie er errötete.
»Ich bin ganz zufrieden, wenn ich allein schlafen kann«, sagte Sally kühl.
Don Alfonso schaute enttäuscht drein. Er beugte sich zu Tom hinüber, als wolle er allein mit ihm reden. Doch seine Stimme war für jedermann im Lager zu hören: »Sie ist eine wunderschöne Frau, Tomas, selbst wenn sie alt ist.«
»Entschuldigen Sie mal - ich bin neunundzwanzig.«
»Ehi, Señorita, da sind Sie ja noch älter, als ich dachte. Tomas, Sie müssen sich beeilen. Sie ist jetzt schon fast zu alt zum Heiraten.«
»In unserer Zivilisation«, sagte Sally, »gilt man mit neunundzwanzig noch als jung.«
Don Alfonso schüttelte weiterhin traurig den Kopf. Tom konnte sich ein Lachen nun nicht mehr verbeißen.
Sally fuhr zu ihm herum. »Was ist denn daran so witzig?«
»Der Zusammenprall der Kulturen«, erwiderte Tom und schnappte nach Luft.
Sally sprach nun Englisch. »Mir gefällt dieses kleine sexi-stische Tête-à-Tête zwischen Ihnen und diesem alten Lust-molch nicht.« Sie schaute Don Alfonso an. »Für einen Menschen, der angeblich hunderteinundzwanzig Jahre alt ist, denken Sie verdammt oft an Sex.«
»Männer hören nie auf, über die Liebe nachzudenken, Se-
ñorita. Selbst wenn sie alt werden und ihr Glied schrumpelt wie eine zum Trocknen in die Sonne gelegte Yuca. Ich bin vielleicht hunderteinundzwanzig, aber ich habe noch so viel Blut wie ein Neunzehnjähriger. Tomas, ich würde eine Frau wie Sally gern heiraten, aber nur wenn sie sechzehn wäre und feste, spitze Brüste hat ...«
»Don Alfonso«, fiel Sally ihm ins Wort, »glauben Sie nicht, dass das Mädchen Ihrer Träume auch achtzehn sein könn-
te?«
»Dann ist sie aber vielleicht keine Jungfrau mehr.«
»In unserem Land«, sagte Sally, »heiraten die meisten Frauen erst, wenn sie achtzehn sind. Es ist anstößig, von Sechzehnjährigen als Ehefrauen zu sprechen.«
»Tut mir Leid! Ich hätte wissen müssen, dass sich die Mädchen im kalten Klima Nordamerikas langsamer entwickeln. Hier jedoch ist eine Sechzehnjährige ...«
»Hören Sie auf!«, brüllte Sally und presste die Hände auf ihre Ohren. »Mir reicht's! Don Alfonso, ich habe genug von Ihren Kommentaren über Sex!«
Der Greis zuckte die Achseln. »Ich bin ein alter Mann, Curandera, und das bedeutet, dass ich reden und Witze machen darf, wie es mir gefällt. Gibt es diese Tradition in Amerika nicht?«
»In Amerika reden alte Menschen nicht ständig über Sex.«
»Über was reden sie denn?«
»Sie reden über ihre Enkel, das Wetter, Florida und solche Sachen.«
Don Alfonso schüttelte den Kopf. »Wie langweilig es doch sein muss, in Amerika alt zu werden.«
Sally marschierte von hinnen und zog die Hüttentür hinter sich zu. Bevor sie verschwand, warf sie Tom einen gifti-gen Blick zu. Tom schaute verdutzt hinter ihr her. Was hatte er denn getan oder gesagt? Es war einfach ungerecht, dass sie ihn des Sexismus verdächtigte.
Don Alfonso zuckte die Achseln, steckte seine Pfeife wieder an und sagte lauthals: »Ich verstehe das nicht. Sie ist neunundzwanzig und unverheiratet. Ihr Vater wird eine enorme Mitgift bezahlen müssen, um sie loszuwerden. Und Sie sind fast auch schon ein alter Mann und haben keine Ehefrau. Warum heiratet ihr beide nicht? Sind Sie vielleicht homosexuell?«
»Nein, Don Alfonso.«
»Es ist ganz in Ordnung, wenn Sie es sind, Tomas. Chori kann Ihnen gefällig sein. Er ist nicht festgelegt.«
»Nein, danke.«
Don Alfonso schüttelte verwundert den Kopf. »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Sie müssen Ihre Chancen nutzen, Tomas.«
»Sally«, sagte Tom, »ist mit einem anderen Mann verlobt.«
Don Alfonsos Brauen zuckten hoch. »Ach. Und wo ist dieser Mann jetzt?«
»In Amerika.«
»Dann kann er sie nicht lieben!«
Tom zuckte zusammen und warf einen Blick auf ihr Quartier. Don Alfonsos Stimme trug nämlich besonders weit.
Da tönte Sallys Stimme aus der Hütte: »Er liebt mich. Und ich liebe ihn. Und vielen Dank euch beiden, dass ihr jetzt die Klappe haltet!«
Im Wald schallte ein Gewehrschuss, und Don Alfonso stand auf. »Das ist unser zweiter Gang.« Er nahm seine Machete und ging in die Richtung, aus der der Knall gekommen war.
Tom stand ebenfalls auf und brachte seine Hängematte in den Unterstand, um sie aufzuspannen. Als er eintrat, häng-
te Sally gerade einige Kräuter an den Pfählen auf.
»Dieser Don Alfonso ist ein alter Lüstling und ein Sexistenschwein«, sagte sie erzürnt. »Und Sie sind genauso schlimm.«
»Er bringt uns immerhin durch den Sumpf.«
»Ich kann seine kleinen Bemerkungen ganz und gar nicht leiden. Und Ihre grinsende Zustimmung genauso wenig.«
»Sie können doch nicht erwarten, dass er sich mit den neuesten Entwicklungen feministischer und politischer Korrektheit auskennt.«
»Darüber, dass Sie zu alt zum Heiraten sind, hat er jedenfalls nicht gesprochen. Und dabei sind Sie gute zwei Jahre älter als ich. Es ist immer nur die Frau, die zu alt zum Heiraten ist.«
»Nun machen Sie mal halblang, Sally.«
»Ich mache nicht halblang!«
Don Alfonsos Stimme verhinderte Toms Antwort. »Der erste Gang ist zum Verzehren bereit! Gekochter Papagei und Maniokeintopf. Danach gibt's Tapir-Steak. Alles ist gesund und köstlich. Hört jetzt auf zu streiten und kommt zum Essen raus!«