»Vernon ...?«
»Ihm geht's gut«, sagte Sally. »Don Alfonso kümmert sich um ihn. Er hat nur etwas Wasser geschluckt und einen bösen Biss in den Schenkel abgekriegt.«
Tom machte einen Versuch, sich hinzusetzen. Sein Arm brannte mörderisch. Die Schwarzfliegen umschwärmten ihn schlimmer denn je, und er atmete das Getier bei jedem Luftholen ein. Sally legte ihm eine Hand auf den Brustkorb und schob ihn sanft nach hinten. »Nicht bewegen.« Sie zog an ihrer Pfeife, blies ihn mit dem Qualm an und ver-scheuchte so die Mücken.
»Was für ein Glück, dass Anakondas nur winzige Zähn-chen haben.« Sally rieb ihn ein.
»Autsch.« Tom legte sich hin und musterte den sich über ihm bewegenden Blätterbaldachin. Nirgendwo war ein Stückchen freien Himmels zu sehen. Die Blätter deckten alles zu.
30
An diesem Abend lag Tom in der Hängematte und pflegte seinen bandagierten Arm. Vernon hatte sich gut erholt und ging Don Alfonso fröhlich bei der Zubereitung irgendeines unbekannten Vogels zur Hand, den Chori fürs Abendessen erlegt hatte. Im Innern des Unterstandes war es stickig, trotz der hochgerollten Seiten.
Tom hatte Bluff erst vor dreißig Tagen verlassen, aber ihm kam es wie eine Ewigkeit vor. Seine Pferde, die roten Sand-steinfelsen vor dem blauen Himmel, der alles überflutende Sonnenschein und die über den Hügeln von San Juan krei-senden Adler ... All dies schien dem Leben eines anderen Mannes zu entstammen. Es war eigenartig ... Er war mit seiner Verlobten Sarah nach Bluff gezogen. Sie war eine Pferdenärrin und hielt sich ebenso gern in der Natur auf wie er. Doch dann hatte Bluff sich als zu ruhig für sie erwiesen, und eines Tages hatte sie ihre Klamotten in den Wagen gepackt und war gegangen. Da Tom kurz zuvor einen hohen Bankkredit aufgenommen hatte, um seine Tierarztpraxis aufzubauen, war ihm ein Rückzieher unmöglich gewesen. Er hatte es auch nicht gewollt. Nach Sarahs Abreise war ihm klar geworden, dass er Bluff gewählt hätte, falls er sich zwischen ihr und dem Ort hätte entscheiden müssen. Das war zwei Jahre her. Seither hatte er keine Beziehung gehabt. Er redete sich ein, dass er keine brauchte.
Er redete sich ein, dass das ruhige Leben und die schöne Landschaft im Moment für ihn reichten. Die Praxis machte eine Menge Arbeit, auch wenn er kaum etwas verdiente. Er war zwar der Meinung, dass er einer lohnenswerten Tätigkeit nachging, aber es war ihm nie gelungen, diese Sehn-sucht loszuwerden, die er für die Paläontologie empfand: die Spannung, im Fels eingeschlossene Knochen von groß-artigen Dinosauriern zu suchen. Vielleicht hatte sein Vater ja Recht gehabt. Vielleicht hätte er im Alter von zwölf Jahren über diesen Ehrgeiz hinauswachsen sollen.
Tom drehte sich in der Hängematte. Sein Arm pochte. Er warf Sally einen Blick zu. Die Trennwand war hochgerollt, damit die Luft besser zirkulierte. Sie lag in ihrer Hängematte und las eines der Bücher, die Vernon mit auf die Reise genommen hatte. Es hieß »Utopia«. Utopia. Genau das hatte er in Bluff zu finden gehofft. Aber in Wirklichkeit war er vor etwas davongelaufen - zum Beispiel vor seinem Vater.
Tja, aber jetzt lief er nicht mehr vor ihm davon.
Im Hintergrund rief Don Alfonso Chori und Pingo Anweisungen zu. Bald trieb der Duft bratenden Fleisches durch die Hütte. Tom schaute Sally an und beobachtete sie beim Lesen. Sie blätterte die Seiten um, strich ihr Haar zurück, seufzte, las die nächste Seite. Auch wenn sie eine echte Nervensäge war -sie war schön.
Sally legte das Buch beiseite. »Was gucken Sie denn so?«
»Ist das Buch gut?«
»Ausgezeichnet.« Sie lächelte. »Wie geht's Ihnen?«
»Bestens.«
»Wie Sie Vernon gerettet haben ... Indiana Jones hätte es nicht besser hinkriegen können.«
Tom zuckte die Achseln. »Na ja, ich schau doch nicht zu, wie so eine Schlange meinen Bruder frisst.« Eigentlich hatte er nicht darüber reden wollen. »Erzählen Sie mir doch mal was über Ihren Verlobten, diesen Professor Clyve.«
»Tja ...« Sally lächelte nachdenklich. »Ich bin nach Yale gegangen, um bei ihm zu studieren. Er ist mein Doktorva-ter. Wir sind ... Tja, wer würde sich nicht in Julian verlieben? Er ist brillant. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Es war beim wöchentlichen Fakultätsbesäufnis. Ich hatte geglaubt, er wäre einer der üblichen Akademikertypen, aber ... Mann!
Er sieht aus wie Tom Cruise.«
»Mann.«
»Natürlich ist ihm sein Aussehen völlig gleichgültig. Für Julian zählt nur der Geist - nicht der Körper.«
»Aha.« Tom konnte nicht anders. Er musste Sallys Körper anschauen. Ihr Äußeres war der Beweis, dass Julians reine Intellektualität eine Lüge war. Julian war ein Mann wie jeder andere auch - nur wohl weniger aufrichtig als die meisten.
»Er hat kürzlich ein Buch veröffentlicht: Die Entschlüsse-lung der Maya-Sprache. Er ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Genie.«
»Haben Sie den Tag Ihrer Hochzeit schon festgelegt?«
»Julian hält nichts von Hochzeiten. Wir gehen zu einem Friedensrichter.«
»Was ist mit Ihren Eltern? Werden die nicht enttäuscht sein?«
»Ich habe keine Eltern.«
Tom spürte, wie er errötete. »Tut mir Leid.«
»Braucht Ihnen nicht Leid zu tun«, sagte Sally. »Mein Vater starb, als ich elf war, und meine Mutter ist vor zehn Jahren verstorben. Ich habe mich daran gewöhnt - das heißt, so weit man sich an so was eben gewöhnen kann.«
»Dann wollen Sie diesen Burschen also wirklich heiraten?«
Sally schaute ihn an. Eine kurze Stille entstand. »Was soll das heißen?«
»Nichts.« Wechsle das Thema, Tom. »Erzählen Sie mir was über Ihren Vater.«
»Er war Cowboy.«
Yeah, genau, dachte Tom. Wahrscheinlich so ein reicher Cowboy, der Kennpferde gezüchtet hat. »Ich wusste nicht, dass es diese Spezies noch gibt«, sagte er höflich.
»Es gibt sie noch. Nur machen sie nicht das, was man aus Filmen kennt. Echte Cowboys sind Arbeiter, die nur zufällig auf einem Pferderücken sitzen. Sie kriegen kaum mehr als den Mindestlohn und haben keine höhere Schulbildung.
Dafür haben sie ein Alkoholproblem und erleiden in der Regel vor dem vierzigsten Geburtstag eine schwere Verletzung oder sterben. Mein Vater war Vormann auf einer Rin-derranch im Süden von Arizona, die einem Großunterneh-men gehört. Er ist bei Reparaturarbeiten von einer Wind-mühle gefallen und hat sich das Genick gebrochen. Man hätte ihn nicht beauftragen dürfen, da raufzuklettern, aber der Richter hat entschieden, dass es seine eigene Schuld war, weil er getrunken hatte.«
»Tut mir Leid. Ich wollte nicht herumschnüffeln.«
»Es ist gut, wenn man darüber redet. Sagt zumindest mein Psychotherapeut.«
Tom wusste nicht genau, ob dies witzig oder ehrlich gemeint war, aber er beschloss, auf Nummer sicher zu gehen.
Vermutlich gingen die meisten Menschen in New Haven zu einem Psychotherapeuten. »Ich hatte mir vorgestellt, Ihr Vater besäße eine eigene Ranch.«
»Haben Sie mich etwa für ein reiches Töchterchen gehalten?«
Tom errötete. »Tja, irgendwie wohl schon. Immerhin studieren Sie ja in Yale ... Und so wie Sie reiten können ...« Er dachte an Sarah. Er hatte für den Rest seines Lebens genug von reichen Töchtern. Und nun hatte er auch Sally dafür gehalten.
Sally lachte, aber es klang verbittert. »Ich hab um jede Kleinigkeit, die ich besitze, kämpfen müssen. Und das schließt Yale mit ein.«
Tom spürte, dass er noch mehr errötete. Er war völlig auf dem falschen Dampfer gewesen. Sally glich Sarah nicht im Geringsten.
»Trotz dieser Unzulänglichkeiten«, fuhr Sally fort, »war mein Vater ein wunderbarer Mensch. Er hat mir das Reiten und Schießen beigebracht und mir gezeigt, wie man mit Rindern richtig umgeht. Nach seinem Tod ist Mutter mit uns nach Boston gezogen, wo ihre Schwester lebte. Sie hat als Kellnerin im Red Lobster gearbeitet, um mich durchzu-