bringen. Ich ging aufs Framingham State College, weil es das einzige war, das ich nach meiner ziemlich miesen Gymnasialbildung besuchen konnte. Als ich im College war, starb meine Mutter. An einem Aneurysma. Es kam sehr plötzlich. Für mich war es fast das Ende der Welt. Und dann ist doch noch etwas Gutes passiert. Ich hatte eine An-thropologielehrerin, die mir zu entdecken half, dass Lernen Spaß macht und ich nicht nur eine blöde Blondine bin. Sie glaubte an mich. Sie wollte, dass ich meinen Doktor mache.
Ich war fast so weit, aber dann entwickelte ich Interesse an pharmazeutischer Biologie, und so bin ich bei der Enthnopharmakologie gelandet. Ich hab mich halb tot ge-schuftet, um in Yale meinen Doktor zu machen. Und dort habe ich Julian kennen gelernt. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem ich ihn zum ersten Mal sah. Es war auf einer Sherry-Party der Fakultät. Er stand mitten im Raum und erzählte eine Geschichte. Julian kann wunderbar Geschichten erzählen. Ich habe mich nur zu der Menge gesellt und zugehört. Er sprach über seine erste Reise nach Copán.
Er sah so ... schneidig aus. Genau wie ein Forscher aus den alten Zeiten.«
»Sicher«, sagte Tom. »Klar.«
»Und was ist mit Ihrer Kindheit?«, fragte Sally. »Wie war die?«
»Ich würde lieber nicht darüber reden.«
»Das ist aber ungerecht, Tom.«
Tom seufzte. »Ich hatte eine langweilige Kindheit.«
»Lassen Sie mich das beurteilen.«
»Wo soll ich anfangen? Wir wurden sozusagen in einem Schloss geboren. In einem riesigen Anwesen mit Schwimm-becken, Gärtner, einer im Haus wohnenden Köchin, Stal-lungen und fünfhundert Hektar Grund. Unser Vater hat uns mit allem überschüttet. Er hatte viel mit uns vor. Er hatte ein ganzes Regal voller Bücher über Kindererziehung und sie auch alle gelesen. In jedem stand das Gleiche: Fang mit den höchsten Erwartungen an. Als wir Säuglinge waren, spielte er uns Bach und Mozart vor und pflasterte unsere Zimmerwände mit Gemälden alter Meister. Als wir Lesen lernten, wimmelte es im ganzen Haus von Etiketten, auf denen alles Mögliche stand. Wenn ich morgens aufstand, sah ich als Erstes Schildchen mit Aufschriften wie ZAHNBÜRSTE, WASSERHAHN und SPIEGEL. Sie starrten mich aus jeder Zimmerecke an. Mit sieben sollte jeder von uns sich ein Musikinstrument aussuchen. Ich hätte gern Schlagzeug gespielt, aber mein Vater bestand auf etwas Klassischem. Also lernte ich Klavier. Einmal pro Woche >Country Gardens< bei der schrillen Miss Greer. Vernon lernte Oboe. Philip musste Violine spielen. Sonntags gingen wir nicht zur Kirche - unser Vater war Atheist -, sondern zogen uns schnieke an und spielten ihm etwas vor.«
»Oh, Gott.«
»Oh, Gott ist richtig. Beim Sport lief es auch so. Jeder von uns musste sich eine Sportart aussuchen. Aber nicht zum Spaß oder zur Leibesertüchtigung, sondern um uns auszu-zeichnen. Wir wurden in die besten Privatschulen gesteckt.
Jede Minute des Tages unterlag einem Terminplan: Reitun-terricht, Tutoren, private Sportlehrer für Fußball und Tennis, Computerkurse. Und zu Weihnachten Skireisen nach Taos oder Cortina d'Ampezzo.«
»Wie grässlich. Und wie war Ihre Mutter?«
»Wir hatten drei Mütter. Wir sind Halbbrüder. In der Liebe hatte unser Vater sozusagen Pech.«
»Und er hat das Sorgerecht für alle drei Kinder bekommen?«
»Was Max haben will, kriegt er auch. Es waren keine net-ten Scheidungen. Unsere Mütter waren kein bedeutender Bestandteil unseres Lebens. Meine starb schon, als ich noch klein war. Vater wollte uns selbst aufziehen. Er wollte nicht, dass sich jemand einmischt. Er wollte drei Genies erschaffen, die die Welt verändern sollten. Er wollte unsere Berufe aussuchen. Sogar unsere Freundinnen.«
»Tut mir Leid. Was für eine grauenhafte Kindheit.«
Tom wechselte die Stellung in der Hängematte. Sallys Kommentar verärgerte ihn irgendwie. »Ich würde Cortina zur Weihnachtszeit nicht grauenhaft nennen. Irgendwie hat es uns allen doch was gebracht. Ich habe gelernt, Pferde zu mögen. Philip hat sich in die Gemälde der Renaissance verliebt. Und Vernon - tja, er hat sich irgendwie darin verliebt, heute hier und morgen da zu sein.«
»Er hat also Ihre Freundinnen ausgesucht?«
Tom wünschte sich, er wäre weniger deutlich gewesen.
»Er hat's versucht.«
»Und?«
Tom merkte, wie er errötete. Er konnte nichts dagegen tun. Die Erinnerung an Sarah - die vollkommene, schöne, intelligente, begabte und reiche Sarah - stürmte einfach auf ihn ein.
»Wer war sie?«, fragte Sally.
Frauen wussten offenbar immer alles. »Nur ein Mädchen, das mein Vater mir vorstellte. Die Tochter eines Freundes.
Es war - welch eine Ironie - das einzige Mal, dass ich wirklich etwas wollte, das auch er wollte. Ich bin mit ihr ausgegangen. Wir haben uns verlobt.«
»Und dann?«
Tom schaute Sally intensiv an. Sie wirkte mehr als neugierig. Er fragte sich, was das zu bedeuten hatte. »Hat nicht ge-klappt.« Dass er sie eines Abends auf einem Kerl reitend in ihrem gemeinsamen Bett überrascht hatte, verschwieg er lieber. Sarah kriegte, was sie haben wollte. Das Leben ist zu kurz, hatte sie gesagt, und ich möchte nun mal alle seine As-pekte kennen lernen. Was ist daran falsch? Sie konnte sich eben nichts versagen.
Sally schaute ihn noch immer neugierig an. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ihr Vater war wirklich 'ne Type. Er hätte ein Buch zum Thema Wie man Kinder nicht erziehen soll schreiben können.«
Tom spürte, wie seine Verärgerung zunahm. Er wusste, dass er es nicht sagen sollte. Er wusste, dass es ihm Arger einbringen würde, aber er konnte sich nicht zurückhalten.
»Mein Vater hätte Julian sicher geliebt.«
Urplötzlich machte sich Stille breit. Tom spürte, dass Sally ihn anschaute. »Wie bitte?«
Obwohl er wusste, dass es besser gewesen wäre, den Mund zu halten, sagte er: »Ich meine damit, dass Julian genau der Mensch ist, den mein Vater aus uns machen wollte.
Einen Burschen, der mit sechzehn in Stanford studiert, ein berühmter Professor in Yale wird und - wie Sie es ausgedrückt haben - ein Genie im wahrsten Sinne des Wortes ist.«
»Ich werde diese Bemerkung keiner Antwort würdigen«, erwiderte Sally steif. Ihr Gesicht war rot vor Zorn, und sie nahm den Roman wieder an sich und las weiter.
31
Philip war an einen Baum gefesselt. Man hatte ihm die Hände auf den Rücken gebunden. Schwarzfliegen krabbelten über jeden Quadratzentimeter seiner entblößten Haut.
Es waren Tausende, und sie fraßen sein Gesicht bei lebendigem Leib. Er konnte nicht das Geringste tun, wie sie so in seine Augen, seine Nase und seine Gehörgänge krabbelten.
Er schüttelte den Kopf. Er versuchte, sie mit den Lidern und ruckartigen Bewegungen loszuwerden, doch all seine Bemühungen schlugen fehl. Seine Augen waren fast zuge-schwollen. Hauser unterhielt sich leise mit jemandem über sein Satellitentelefon. Philip verstand seine Worte zwar nicht, aber der leise, großkotzige Tonfall seiner Stimme war ihm bekannt. Er schloss die Augen. Er war vermutlich nicht mehr zu retten. Ihn interessierte nur noch eines: Dass Hauser seinem Elend bald ein Ende bereitete. Mit einer schnellen Kugel ins Hirn.
Lewis Skiba saß an seinem Schreibtisch. Der Sessel war dem Fenster zugewandt. Er blickte über die Wipfel der Sky-line von Manhattan. Seit vier Tagen hatte er nichts von Hauser gehört. Vor fünf Tagen hatte er gesagt, er solle die Sache überschlafen. Dann: Stille. Es waren die schlimmsten fünf Tage in Skibas Leben gewesen. Ihre Aktie war auf sechs runter, das SEC hatte ihm eine Vorladung zugestellt und in der Firmenzentrale Laptops und Festplatten beschlagnahmt. Sogar seinen eigenen Computer hatten die Lumpen mitgenommen. Die Hysterie der Leerverkäufer hielt unvermindert an. Das »Journal« hatte nun offiziell bekannt gegeben, dass die FDA entschlossen war, Phloxatan zu verbieten. Standard & Poor's würde die Lampe-Wertpapiere in Kürze als Müll einstufen, und erstmals spe-kulierte man öffentlich über Zahlungsunfähigkeit.