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Vernon und Chori packten Pingo und trugen ihn den Damm hinauf. Wieder knallte über ihren Köpfen eine Salve ins Ufer und spritzte ihnen Erde und Gestein entgegen. Sallys Schuss hatte die Soldaten allerdings vorsichtig gemacht, deswegen hielten sie Abstand. Die Flüchtlinge krabbelten den erdigen Hang hinauf, nahmen unter überhängendem Dickicht Deckung und rangen nach Atem.

»Hier können wir nicht bleiben«, sagte Tom.

An der höchsten Stelle des Uferdamms schaute er nur einmal zurück. Er sah, dass ihre Boote flussabwärts trieben.

Die Flammen schlugen hoch in den Himmel. Als ein Treib-stoffbehälter in die Luft flog, gab es eine dumpfe Explosion, die einen Feuerball aufsteigen ließ. Dahinter steuerten die Boote mit den Soldaten vorsichtig ans Ufer. Sally, noch immer mit Choris Gewehr bewaffnet, kniete sich hin und feuerte einen Schuss durch die sie abschirmende Vegetation.

Sie zogen sich tiefer in den Dschungel zurück, wechselten sich beim Tragen von Pingo ab und bahnten sich einen Weg durch den dichten Urwald. Hinter ihnen hörte Tom Geschrei, dann knallten mehrere willkürliche Schüsse durch den Wald. Darauf ertönte das dumpfe Krachen des nächsten explodierenden Tanks. Die Angreifer hatten ihre Boote offenbar ans Ufer gesteuert und nahmen nun halbherzig die Verfolgung auf. Doch je tiefer die Flüchtenden in den Wald vordrangen, desto leiser wurde hinter ihnen das sporadi-sche Gewehrfeuer, bis es schließlich vollends verstummte.

Sie hielten auf einer kleinen grasbewachsenen Lichtung an. Tom und Vernon legten Pingo auf den Boden. Tom beugte sich über ihn und tastete verzweifelt seinen Puls. Er fand ihn nicht. Dann begutachtete er die Wunde. Sie sah grauenhaft aus. Ein Hohlspitzgeschoss hatte Pingo in den Rücken - zwischen die Schulterblätter - getroffen. Es war mit Brachialgewalt aus seinem Brustkorb ausgetreten, in dem sich nun ein klaffendes Loch von fast fünfzehn Zentimetern im Durchmesser befand. Die Kugel war genau durchs Herz gegangen. Es war kaum zu glauben, dass er nach einer solchen Verwundung auch nur noch Sekunden gelebt hatte.

Tom schaute zu Chori auf. Der Gesichtsausdruck des Mannes war absolut kalt. »Tut mir Leid.«

»Wir haben keine Zeit zu trauern. Wir müssen weiter.«

»Sollen wir ihn hier liegen lassen?« »Chori wird bei ihm bleiben.« »Aber die Soldaten kommen bestimmt ...« Don Alfonso fiel ihm ins Wort. »Ja. Und Chori muss tun, was er tun muss.« Er wandte sich an Sally. »Behalten Sie sein Gewehr und die Munition. Wir werden Chori nicht wiedersehen. Gehen wir.«

»Aber wir können ihn doch nicht hier lassen!«, sagte Tom protestierend.

Don Alfonso packte Tom an den Schultern. Seine Hände waren überraschend kräftig, wie Klammern aus Stahl. Er sprach leise, aber eindringlich: »Chori hat mit den Mördern seines Bruders noch eine Rechnung zu begleichen.«

»Ohne Schießeisen?«, fragte Sally, als Chori eine zerbeulte Munitionsschachtel aus seinem Beutel zog und ihr reichte.

»Lautlose Pfeile sind im Dschungel wirkungsvoller. Er wird so viele dieser Leute töten, dass er in Ehren sterben kann. So ist unsere Tradition. Mischt euch da nicht ein.«

Don Alfonso drehte sich um, ohne einen Blick zurückzuwerfen, dann drosch er mit seiner Machete auf eine Wand aus Pflanzenwerk ein und sprang durch die Öffnung. Tom, Sally und Vernon folgten ihm. Sie hatten Mühe, mit dem Greis Schritt zu halten, der sich mit der Schnelligkeit und Lautlosigkeit einer Fledermaus bewegte. Tom hatte keine Ahnung, wohin sie gingen. Sie marschierten stundenlang durch Schluchten, wateten durch reißende Bäche und mussten sich manchmal den Weg durch dichte Bambus-und Farnhecken schlagen. Beißlustige Ameisen regneten auf sie herab und krabbelten ihnen über die Hemden. Don Alfonso spießte mit seiner Machete mehrmals kleine Schlangen auf und schleuderte sie beiseite. Dann regnete es kurz. Sie wurden klitschnass. Als anschließend die Sonne herauskam, dampften sie. Insektenschwärme verfolgten sie und stachen boshaft zu. Niemand sprach ein Wort. Niemand konnte sprechen, denn sie mussten ja irgendwie auf den Beinen bleiben.

Stunden später, als das Licht in den Baumwipfeln allmählich erstarb, hielt Don Alfonso an. Er setzte sich wortlos auf den Stamm eines umgestürzten Baumes, zog seine Pfeife hervor und zündete sie an. Tom betrachtete das aufflak-kernde Zündholz. Er fragte sich, wie viele sie wohl noch hatten. Als die Boote in Flammen aufgegangen waren, hatten sie fast alles verloren.

»Was jetzt?«, fragte Vernon.

»Wir schlagen ein Lager auf«, sagte Don Alfonso. Er schwenkte seine Machete. »Entzündet ein Feuer. Dort.«

Vernon machte sich an die Arbeit. Tom half ihm dabei.

Don Alfonso deutete mit der Machete auf Sally. »Sie gehen jagen. Sie mögen vielleicht eine Frau sein, aber Sie schießen wie ein Mann und haben auch den Mut eines Mannes.«

Tom betrachtete Sally. Ihr Gesicht war schmutzig. Ihre langen blonden Haare waren zerzaust, das Gewehr hing über ihrer Schulter. Ihr Gesicht zeigte ihm all das, was er persönlich empfand: den Schreck und die Überraschung des Angriffs, das Entsetzen über Pingos Tod, den Frust wegen des Verlusts ihrer Ausrüstung - und die Entschlossen-heit zu überleben. Sally nickte und machte sich auf in den Wald.

Don Alfonso schaute Tom an. »Wir beide bauen einen Unterstand.«

Eine Stunde später war es dunkel. Sie saßen um das Feuer herum und aßen den Eintopf, den sie aus Sallys Beute, einem großen Nagetier, zubereitet hatten. In der Nähe stand eine kleine Schilfhütte. Don Alfonso saß vor einem Stapel Palmwedel, riss sie in Streifen und flocht sie zu Hängematten zusammen. Von den Anweisungen, die er erteilt hatte, einmal abgesehen, war er bisher schweigsam gewesen.

»Was waren das für Soldaten?«, fragte Tom.

Don Alfonso stellte seine Tätigkeit an den Hängematten nicht ein. »Es waren die Soldaten, die mit Ihrem Bruder Philip den Fluss heraufgekommen sind.«

»Philip würde nie zulassen, dass man uns angreift«, sagte Vernon.

»Nein«, sagte Tom. Er hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Vielleicht war es in Philips Expedition zu einer Meuterei gekommen oder es war sonst was passiert. Jedenfalls musste Philip ernstlich in Gefahr sein - falls er überhaupt noch lebte. Der unbekannte Feind konnte kein anderer sein als Hauser. Er hatte die beiden Polizisten in Santa Fe getötet und für ihre Festnahme in Brus gesorgt. Er steckte sicher auch hinter dem gerade erfolgten Angriff.

»Die Frage ist nur«, sagte Sally, »ob wir weitergehen oder umkehren.«

Tom nickte.

»Es wäre Selbstmord, wenn wir weitergingen«, meinte Vernon. »Wir haben doch nichts mehr - keinen Proviant, keine Kleidung, keine Zelte, keine Schlafsäcke.«

»Philip ist vor uns«, sagte Tom. »Und er ist in Schwierigkeiten. Es dürfte wohl klar sein, dass Hauser es war, der die Morde an den beiden Polizisten in Santa Fe veranlasst hat.«

Stille.

»Vielleicht sollten wir umkehren und mit neuer Ausrüstung zurückkommen. So, wie es jetzt aussieht, können wir ihm nicht helfen, Tom.«

Tom musterte Don Alfonso, der sich konzentriert als Flechter betätigte. Die aufgesetzt neutrale Miene des Greises sagte ihm, dass er eine Meinung zu dieser Frage hatte.

Er sah immer so aus, wenn er mit etwas nicht einverstanden war. »Don Alfonso?«

»Ja?«

»Was sagen Sie dazu?«

Don Alfonso legte die Hängematte nieder und rieb sich die Hände. Dann blickte er Tom in die Augen. »Dazu habe ich nichts zu sagen. Allerdings habe ich etwas anzumerken, das auf Tatsachen basiert.«

»Und das wäre?«

»Hinter uns liegt ein tödliches Sumpf gebiet, in dem das Wasser täglich weiter sinkt. Wir haben kein Boot. Es wird mindestens eine Woche dauern, eines zu bauen. Aber wir können keine Woche am gleichen Platz bleiben, weil die Soldaten uns dann nämlich finden. Außerdem ist der Bau eines Einbaums mit Rauch verbunden, den jeder sehen kann. Deswegen müssen wir in Bewegung bleiben, zu Fuß, durch den Dschungel, in Richtung Sierra Azul. Wenn wir umkehren, sterben wir. So viel zu meinen Tatsachen.«