Hauser nahm die Zigarre aus dem Mund und trank einen Schluck aus seiner Feldflasche. Dann klemmte er sich die Zigarre zwischen die Zähne und inhalierte den Rauch. Er fühlte sich nur teilweise erfrischt. Es war nicht das erste Mal, dass er den Fehler begangen hatte, die honduranischen Soldaten mit einem einfachen Auftrag zu betrauen, den sie dann vermasselten. Leider gab es hier nur einen von seiner Sorte, aber er konnte ja nicht alles selbst machen. Es war immer und immer wieder das gleiche Problem.
Hauser wandte sich um und lächelte den Teniente an. »Ich bin ein sehr guter Chirurg, Teniente. Falls Sie je einen brauchen ...?«
35
Sie verbrachten den folgenden Tag in ihrem Lager. Don Alfonso schnitt einen riesigen Stapel Palmwedel zu, saß den größten Teil des Tages im Schneidersitz davor, riss sie in faserige Streifen und flocht Rucksäcke und weitere Hängematten. Sally ging auf die Jagd und brachte eine kleine Antilope mit, die Tom zubereitete und über dem Feuer räucherte. Vernon sammelte Früchte und Maniokwurzeln. Als der Tag zur Neige ging, verfügten sie über einen kleinen Nahrungsvorrat für ihre Reise.
Sie machten eine Bestandsaufnahme ihrer Besitztümer: Sie hatten mehrere wasserdichte Armbanduhren und eine Schachtel mit dreißig Schuss Munition. Toms Tornister enthielt einen winzigen Seva-Kocher mit einem Aluminiumtopf und einer Pfanne, zwei Propangasflaschen und eine Sprühdose mit Insektenschutz. Vernon war mit einem Fernglas um den Hals entkommen. Don Alfonso besaß einen Haufen Dauerlutscher, drei Pfeifen, zwei Päckchen Tabak, einen kleinen Schleifstein sowie eine Rolle Angelschnur mit Haken. All dies war in seinem fettigen Leder-beutel gewesen, den er aus dem brennenden Einbaum gerettet hatte. Außerdem verfügten sie über ihre Macheten, die sie zur Zeit des Angriffs am Gürtel getragen hatten.
Am nächsten Morgen brachen sie auf. Tom machte die Vorhut und schwang seine frisch geschliffene Machete. Don Alfonso war gleich hinter ihm und murmelte ihm zu, welchen Weg sie nehmen sollten. Nachdem sie sich mehrere Kilometer durch den Busch geschlagen hatten, erreichten sie einen alten Wildwechsel, der durch einen kühlen Wald glattrindiger Bäume verlief. Das Licht war so schwach, dass hier fast kein Gestrüpp wuchs. Der Wald lag still da. Es war, als spaziere man durch eine riesige grüne Kathedrale.
In den frühen Nachmittagsstunden endete der Pfad am Fuß einer Bergkette. Der Waldboden stieg leicht an und führte auf einen verfilzten Hang voller bemooster Findlinge. Der Weg ging fast geradeaus in die Höhe. Don Alfonso legte bei der Kletterei ein überraschendes Tempo vor, sodass Tom und die anderen sich anstrengen mussten, um ihm zu folgen. Die Kondition des Greises überraschte sie. Je höher sie kamen, desto frischer wurde die Luft. Die stattli-chen Urwaldbäume machten ihren zwergwüchsigen, verkrüppelten Gebirgsvettern Platz, deren Äste mit Moos bewachsen waren. Am Spätnachmittag erreichten sie einen flachen Kamm, der an hohen blattförmigen Felsen endete.
Zum ersten Mal hatten sie Zeit, einen Blick auf den Dschungel zurückzuwerfen, den sie durchquert hatten.
Tom wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Berg-hang fiel in einer fantastischen Smaragdfarbe vor ihnen in die Tiefe. Achthundert Meter unter ihnen wogte ein grüner Ozean von Vegetation. Über ihnen zogen gewaltige Kumu-luswolken dahin.
»Ich wusste nicht, dass wir so hoch oben sind«, sagte Sally.
»Danken wir der Jungfrau Maria, dass wir überhaupt so weit gekommen sind«, erwiderte Don Alfonso leise und legte seinen Rucksack aus Palmwedeln ab. »Dies ist ein guter Platz zum Rasten.« Er setzte sich auf einen Baumstamm, zündete seine Pfeife an und erteilte Anweisungen.
»Sally, Sie und Tom gehen auf die Jagd. Vernon, Sie machen zuerst ein Feuer, dann bauen Sie einen Unterstand.«
Er lehnte sich zurück und qualmte träge und mit halb geschlossenen Augen vor sich hin.
Sally hängte sich das Gewehr über die Schulter, dann setzten sie und Tom sich in Bewegung. Sie folgten einer Art Wildwechsel. »Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, Ihnen zu danken, dass Sie auf die Soldaten geschossen haben«, sagte Tom. »Das hat uns wahrscheinlich das Leben gerettet.
Sie haben wirklich Mumm.«
»Sie sind wie Don Alfonso. Es scheint Sie zu überraschen, dass eine Frau mit einem Gewehr umgehen kann.«
»Ich habe Ihre Geistesgegenwart gemeint, nicht Ihre Schießkünste. Aber ... Na ja, ich geb's ja zu: Es hat mich überrascht.«
»Dann darf ich Sie informieren, dass wir mittlerweile im einundzwanzigsten Jahrhundert leben - in dem Frauen nun eben Überraschendes tun.«
Tom schüttelte den Kopf. »Sind in New Haven alle so widerborstig?«
Sallys grüne Augen musterten ihn kühl. »Sollen wir jetzt zur Jagd schreiten? Ihr Gequatsche verscheucht uns noch das Wild.«
Tom unterdrückte jeden weiteren Kommentar und schaute zu, wie ihr schlanker Körper sich durch den Dschungel bewegte. Nein, Sally glich Sarah überhaupt nicht. Sie war widerborstig und nahm kein Blatt vor den Mund. Sarah war aalglatt; sie sprach nie aus, was sie wirklich dachte. Sie sagte nie die Wahrheit und war auch zu Menschen höflich, die sie nicht ausstehen konnte. Für sie war es stets vergnüglicher gewesen, die Menschen zu täuschen.
Die beiden gingen weiter. Ihre Schritte machten auf den feuchten, elastischen Blättern kein Geräusch. Der Wald war kühl und dicht. Durch die Lücken zwischen den Bäumen konnte Tom den Rio Macaturi sehen, der sich tief unter ihnen durch den Regenwald schlängelte.
Aus den bewaldeten Hängen über ihnen ertönte eine Art Husten. Es klang wie ein Mensch, nur tiefer und kehliger.
»Das«, sagte Sally, »hört sich nach einer Katze an.«
»Katze?«, sagte Tom. »Meinen Sie Katze wie Jaguar?«
»Ja.«
Sie marschierten nebeneinander durchs Dickicht und schoben mit den Händen Blätter und Farne auseinander.
Die Berghänge waren eigentümlich still. Sogar die Vögel hatten ihr Gezwitscher eingestellt. Eine Eidechse huschte an einem Baumstamm hinauf.
»Ich hab hier oben ein komisches Gefühl«, sagte Tom. »Es ist irgendwie unwirklich.«
»Das hier ist ein Nebelwald«, sagte Sally. »Ein Regenwald in großer Höhe.« Sie ging mit der Waffe im Vorhalt voraus.
Tom hielt mit ihr Schritt.
Dann wieder dieses Fauchen, tief und dröhnend. Es war das einzige Geräusch in dem nun schon unnatürlich stillen Wald.
»Das klang näher«, konstatierte Tom.
»Jaguare haben viel mehr Angst vor uns als wir vor ihnen«, erwiderte Sally.
Sie kletterten einen mit riesigen umgestürzten Findlingen bedeckten Hang hinauf, zwängten sich zwischen bemoo-sten Felsen hindurch und kamen schließlich an einen dichten Bambushain. Sally umrundete ihn. Die Wolken waren ihnen nun sehr nahe. Dunstfetzen trieben durch die Bäume.
Die Luft roch nach feuchtem Moos. Die Aussicht nach unten war im Weiß verschwunden.
Sally blieb stehen, hob das Gewehr, wartete ab.
»Was ist denn?«, fragte Tom leise.
»Vor uns.«
Sie pirschten weiter. Vor ihnen erstreckte sich wieder eine Ansammlung gigantischer moosbewachsener Findlinge. Sie wirkten wie aufgestapelt und formten eine Wabe aus dunklen Löchern und Durchgängen.
Tom stand hinter Sally und wartete ab. Der Dunst wehte schnell heran und reduzierte die Bäume zu Silhouetten. Der Nebel entzog der Landschaft das Fantastische und verwandelte sie in ein stumpfes Blaugrau.
»Zwischen den Felsen, da bewegt sich was«, sagte Sally leise.
Sie duckten sich und warteten ab. Tom merkte, wie der Nebel sich um sie sammelte und seine Kleidung durchnässte.
Nach zehn langen Minuten tauchte in einer Felsöffnung ein Kopf mit zwei glänzenden schwarzen Augen auf. Ein Tier, das wie ein überdimensionales Meerschweinchen aussah, trat schnüffelnd ins Freie.
Der Schuss krachte augenblicklich. Das Tier quiekte laut und fiel auf den Rücken.