Sally stand auf. Sie konnte ein Grinsen nicht unterdrük-ken.
»Guter Schuss«, bemerkte Tom.
»Danke.«
Tom zückte seine Machete und machte sich auf, um das Tier in Augenschein zu nehmen. Er fühlte sich als Schläch-ter nicht recht wohl in seiner Haut, aber irgendwann musste er schließlich damit anfangen.
»Ich gehe schon mal weiter.«
Tom nickte und drehte die Beute mit dem Schuh um. Es war so ein dickes, großes Nagetier mit gelben Schneidezäh-nen und dichtem Fell. Obwohl er nicht wild auf diese Aufgabe war, hob er die Machete. Er schlitzte das Tier auf, nahm es aus und schnitt ihm Kopf und Tatzen ab. Dann zog er ihm das Fell ab. Alles roch stark nach Blut. So hungrig Tom auch war, Appetit hatte er plötzlich keinen mehr.
Er war zwar nicht empfindlich - als Tierarzt hatte er ja nun schon viel Blut gesehen -, aber es gefiel ihm nicht, auf Seiten des Tötens zu stehen. Das Heilen war ihm lieber.
Dann hörte er wieder ein Geräusch, diesmal ein sehr leises Knurren. Tom hielt inne und lauschte. Dem Knurren folgte ein leises und gereiztes Fauchen. Es ließ sich schwer sagen, woher es kam - wahrscheinlich von oben, aus den Felsen über ihm. Tom hielt nach Sally Ausschau. Er lokalisierte sie etwa zwanzig Meter entfernt, unterhalb eines Steinschlages, eine schlanke, sich lautlos im Dunst bewegende Gestalt.
Dann verblasste sie.
Tom zerlegte die Beute in vier handliche Portionen und verpackte sie in Palmwedel. Es war niederschmetternd, wie wenig Fleisch es eigentlich war - kaum der Rede wert. Aber vielleicht erwischte Sally ja noch etwas Größeres, vielleicht einen Hirschen?
Als Tom mit dem Verpacken der Beute fertig war, hörte er wieder ein Geräusch - ein sanftes, leises Schnurren. Es war ihm so nahe, dass er zusammenzuckte. Er wartete ab, lauschte und spannte seine Muskeln. Plötzlich wurde ein Schrei laut, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Dann wurde er zu einem hungrigen Knurren. Tom sprang mit der Machete in der Hand auf und versuchte in Erfahrung zu bringen, aus welcher Richtung das Geräusch gekommen war, doch zwischen den Bäumen und Felsen sah er nichts. Der Jaguar hatte sich gut versteckt.
Tom schaute den Hang hinab, wo Sally im Dunst untergetaucht war. Es gefiel ihm nicht, dass der Jaguar nach dem Schuss nicht das Weite gesucht hatte. Er hob die Machete, ließ das zerlegte Nagetier liegen und eilte an die Stelle, wo er Sally zuletzt gesehen hatte.
»Sally?«
Der Jaguar brüllte erneut. Diesmal schien er sich genau über Tom zu befinden. Er fiel instinktiv auf die Knie, doch er erblickte nur bemooste Felsen und tote Baumstämme.
»Sally!«, rief er lauter. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Stille.
Tom lief den Abhang hinunter. In seinem Herzen war Panik. »Sally!«
»Ich bin hier unten«, erwiderte eine schwache Stimme.
Tom hastete weiter abwärts. Er rutschte auf nassen Blättern aus und trat Steinchen los, die den steilen Hang hinab-rollten. Der Dunst wurde immer dichter. Dann hörte er hinter sich wieder das fast menschlich klingende Husten und Fauchen. Das Tier verfolgte ihn.
»Sally!«
Sally tauchte aus dem Dunst auf. Sie hielt das Gewehr noch in den Händen, und ihre Stirn war gerunzelt. »Ihr Geschrei hat mich an meinem Schuss gehindert.«
Tom blieb vor ihr stehen, dann schob er die Machete in den Gürtel. Er war verlegen. »Ich hab mir halt Sorgen gemacht. Die Laute, die der Jaguar ausstößt, gefallen mir nicht. Er jagt uns.«
»Jaguare jagen keine Menschen.«
»Sie haben doch gehört, was mein Bruder gesagt hat ...
Was seinem Führer passiert ist.«
»Ehrlich gesagt, ich glaube das nicht.« Sally setzte eine finstere Miene auf. »Jetzt können wir ohnehin umkehren. In diesem Nebel treffe ich sowieso nichts mehr.«
Sie stiegen wieder zu der Stelle hinauf, wo sie das erlegte Nagetier liegen gelassen hatten. Es war nicht mehr da. Sie sahen nur ein paar zerfetzte, blutige Palmwedel.
Sally lachte. »Er hat Sie nur verjagt, um sich unser Abendessen einzuverleiben.«
Tom errötete vor Verlegenheit. »Er hat mich nicht verjagt.
Ich bin gegangen, um Sie zu suchen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Sally. »Ich wäre vermutlich auch abgehauen.«
Tom registrierte das Wort vermutlich ziemlich gereizt, erwiderte jedoch nichts. Dabei lag ihm eine spitze Bemerkung auf der Zunge. Noch einmal würde er sich nicht von ihr aufziehen lassen. Sie nahmen den Pfad, der sie hier herauf-geführt hatte, um zum Lagerplatz zurückzugehen. Als sie die erste Felsansammlung erreichten, brüllte der Jaguar erneut; der Laut klang in dem dunstigen Wald eigenartig deutlich und klar. Sally blieb stehen und hob das Gewehr.
Sie warteten. Wassertropfen sammelten sich; sie fielen von den Blättern und erfüllten den Wald mit leisen klatschenden Geräuschen.
»Bis jetzt war er nicht vor uns, Sally.«
»Glauben Sie, er ist noch hinter uns her?«
»Ja.«
»Quatsch. Wenn dem so wäre, würde er nicht so einen Krach machen. Außerdem hat er doch gerade erst gefressen.« Sie grinste ihn überlegen an.
Vorsichtig marschierten sie auf die Felsen zu. Dort gab es außer einem Haufen Löcher und Nischen nichts.
»Gehen wir auf Nummer sicher und umrunden den Steinschlag«, schlug Tom vor.
»In Ordnung.«
Sie stiegen wieder hinauf, um den Steinhaufen von oben zu umgehen. Der Dunst wurde dichter. Tom merkte, wie seine einzige Garnitur Kleidung die Feuchtigkeit aufsaugte.
Er blieb stehen. Er hatte ein leises Rascheln vernommen.
Sally hielt ebenfalls an.
»Sally, gehen Sie hinter mir her«, sagte Tom.
»Ich hab die Kanone. Ich müsste vorausgehen.«
»Gehen Sie hinter mir her!«
»Verflucht noch mal.« Doch sie trat hinter ihn.
Tom zog seine Machete und stiefelte los. Überall um sie herum standen verkrüppelte Bäume mit niedrigen, bemoo-sten Ästen. Der Nebel war so dicht, dass man ihre Wipfel nicht erkennen konnte. Dann fiel Tom auf, dass der Wind dem Jaguar nun ihre Witterung zutrug. Er war um sie he-rumgegangen, damit er sie wittern konnte und nicht mehr zu erspähen brauchte.
»Sally, ich spüre, dass er hinter uns her ist.«
»Er ist nur neugierig.«
Tom erstarrte. Da, an die zehn Meter entfernt, stand der Jaguar und offenbarte sich urplötzlich ihren Blicken. Er stand oberhalb ihres Weges auf einem Ast, musterte sie gelassen und bewegte den Schweif. Er sah so prächtig aus, dass Tom der Atem stockte.
Sally hob ihre Waffe nicht zum Schuss, und Tom verstand weshalb. Es war unmöglich, auch nur zu erwägen, ein so wunderschönes Tier zu vernichten.
Nach einem Augenblick des Zögerns sprang der Jaguar mühelos auf einen anderen Ast und lief geschmeidig über ihn hinweg, ohne die beiden Menschen aus den Augen zu lassen. Seine Muskeln wogten unter dem goldenen Fell, das sich wie fließender Honig bewegte.
»Schauen Sie mal, wie schön er ist«, raunte Sally.
Und er war wirklich schön. Die Raubkatze sprang mit einer unglaublich leichtfüßigen Bewegung auf einen anderen Ast, sodass sie ihnen noch näher kam. Dort verharrte sie und ließ sich langsam nieder. Sie schaute die beiden Menschen herausfordernd und ohne jede Spur von Furcht an und machte keinen Versuch, sich zu verstecken. Außerdem rührte sie sich nicht, wenn man von einem leichten Zucken ihrer Schweifspitze absah. An ihrer Schnauze klebte Blut.
Der Blick, mit dem sie Tom und Sally betrachtete, hatte etwas Geringschätziges.
»Er hat keine Angst«, sagte Sally.
Tom wich langsam zurück. Sally tat es ihm gleich. Der Jaguar blieb sitzen und beobachtete sie. Er behielt sie pausenlos im Auge, bis er dann schließlich im wabernden Dunst verschwand.
Als sie ins Lager zurückkehrten, hörte Don Alfonso sich ihre Geschichte an. Sein braunes Gesicht legte sich in besorgte Falten. »Wir müssen sehr vorsichtig sein«, sagte er.