Выбрать главу

»Wir dürfen nie wieder über dieses Tier sprechen. Sonst folgt es uns, weil es hören will, was wir reden. Es ist nämlich sehr stolz und mag es nicht, wenn man schlecht über es spricht.«

»Ich dachte, Jaguare greifen keine Menschen an«, sagte Sally.

Don Alfonso lachte und tätschelte ihr Knie. »Das ist ein guter Witz. Wenn er einen Menschen anschaut ... Was sieht er dann Ihrer Meinung nach?«

»Keine Ahnung.«

»Er sieht ein schwaches, dummes, langsames, aufrecht gehendes Stück Fleisch ohne Hörner, Zähne und Krallen.«

»Warum hat er uns dann nicht angegriffen?«

»Weil er, wie alle Katzen, gern mit seiner Beute spielt.«

Sally schüttelte sich.

»Es ist nicht erfreulich, von einem Jaguar gefressen zu werden, Curandera. Sie fressen zuerst die Zunge, aber sie warten nicht immer ab, bis man tot ist. Wenn Sie noch mal die Gelegenheit haben, töten Sie ihn.«

In dieser Nacht war der Wald so still, dass Tom Probleme mit dem Einschlafen hatte. Irgendwann nach Mitternacht kroch er in der Hoffnung, etwas frische Luft werde ihm gut tun, aus dem Unterstand. Der sich ihm bietende Anblick verblüffte ihn. Um ihn herum leuchtete der Wald in Phos-phorglanz, als hätte jemand Leuchtpulver verstreut. Das Licht umriss zerfallende Baumstämme und Strünke, Laub, Pilze und eine strahlende Landschaft, die sich in den Wald hinein erstreckte und in dunstigem Glanz verschmolz. Es war, als sei der biblische Himmel auf die Erde gekommen.

Fünf Minuten später kroch er in den Unterstand zurück und rüttelte Sally. Sie drehte sich um. Ihr Haar war ein Filz aus schwerem Gold. Sie schlief, wie die anderen, in ihren Kleidern. »Was ist denn?«, fragte sie müde. »Sie müssen sich unbedingt was ansehen.« »Ich schlafe doch.«

»Man muss es einfach gesehen haben.« »Ich muss überhaupt nichts. Hauen Sie ab.« »Sally, vertrauen Sie mir. Nur dieses eine Mal.« Sally wälzte sich murrend aus der Hängematte und trat ins Freie. Dort blieb sie stehen und schaute sich schweigend um. Minuten vergingen. »Mein Gott«, hauchte sie dann, »ich hab noch nie so was Schönes gesehen. Es ist, als würfe man aus zehntausend Meter Höhe einen Blick auf Los Angeles.«

Das Leuchten erhellte leicht Sallys Gesicht und zeichnete ihre Umrisse vor der Dunkelheit nach. Ihr langes Haar schwang wie eine Lichtkaskade über ihren Rücken, doch es war jetzt silbern statt golden.

Aus einem Impuls heraus nahm Tom ihre Hand. Sally zog sie nicht zurück. Es lag etwas überraschend Erotisches darin, nur ihre Hand zu halten. »Tom?« »Ja?«

»Warum wollten Sie, dass ich das sehe?« »Na ja«, sagte Tom, »weil ich ...« Er zögerte. »Ich wollte es eben mit Ihnen teilen, mehr nicht.«

»Mehr nicht?« Sally schaute ihn eine ganze Weile an. Ihre Augen wirkten ungewöhnlich strahlend - aber vielleicht war es ja nur eine optische Täuschung. Schließlich sagte sie:

»Ich danke Ihnen, Tom.«

Urplötzlich zerriss der Schrei des Jaguars die nächtliche Stille. Ein schwarzer Schatten bewegte sich langsam vor dem strahlenden Hintergrund - wie das Nichtvorhanden-sein von Licht. Als er ihnen seinen mächtigen Schädel zuwandte, sahen sie, dass das matte Leuchten seiner Augen die Millionen Pünktchen in zwei Kugeln reflektierte, wie zwei winzige Galaxien.

Tom zog Sally langsam an der Hand zu dem Aschehaufen, der einmal ihr Lagerfeuer gewesen war. Er bückte sich und schob ein Stück Holz aus ihm hervor. Als die gelben Flammen nach oben züngelten, tauchte der Jaguar unter.

Kurz darauf gesellte Don Alfonso sich zu ihnen ans Feuer.

»Er spielt noch immer mit seiner Beute«, murmelte der Greis.

36

Als sie am nächsten Morgen aufbrachen, war der Nebel so dicht, dass man in keine Richtung weiter als drei Meter sehen konnte. Sie stiegen den Berg hinauf und folgten dem schwach erkennbaren Wildwechsel. Bald erreichten sie einen zweiten Kamm, dann ging es abwärts. Tom konnte am Fuß des Berges das Tosen eines Gewässers hören. Kurz darauf kamen sie am Steilufer eines Flusses heraus, der an der Bergseite in die Tiefe stürzte und dabei über die Findlinge schoss.

»Wir fällen einen Baum«, sagte Don Alfonso. Er pirschte herum und fand schließlich einen schlanken Stamm, der so günstig stand, dass er in die richtige Richtung fallen musste. »Schlagt ihn an dieser Stelle«, ordnete er an. Alle gaben sich größte Mühe. Nach einer Viertelstunde war der Baum gefällt und bildete dort, wo der von einem anderen Stamm versperrte Fluss sich zu einer strudelnden Rinne verengte, die dann in einem wirbelnden Tümpel endete, eine Art Brücke über die brüllende Stromschnelle.

Don Alfonso hackte auf einen in der Nähe stehenden jungen Baum ein. Kurz darauf hatte er ihn zu einem etwa zehn Meter langen Stab verarbeitet. Er reichte ihn Vernon. »Sie gehen als Erster, Vernito.«

»Warum ich?«

»Weil ich sehen will, ob die Brücke Sie trägt.«

Vernon schaute ihn kurz an. Don Alfonso klopfte ihm lachend auf die Schulter. »Sie müssen die Schuhe ausziehen, Vernito. Gott hat uns nicht ohne Grund nackte Füße gegeben.«

Vernon streifte seine Schuhe ab, knotete die Schnürsenkel aneinander und hängte sie sich um den Hals. Don Alfonso reichte ihm den Stecken.

»Machen Sie langsam, und halten Sie an, sobald der Baum anfängt zu schaukeln.«

Vernon begab sich auf die Behelfsbrücke und balancierte den Stab wie ein Seiltänzer. Seine Füße wirkten auf dem dunklen Grün ziemlich weiß. »Es ist aalglatt hier.«

»Langsam, langsam«, sagte Don Alfonso.

Als Vernon weiterging, bog sich der Stamm und federte.

Nach einigen Minuten war Vernon auf der anderen Seite.

Er warf den Stab hinüber.

»Sie sind dran.« Don Alfonso reichte Tom den Stecken.

Tom zog seine Schuhe aus und hob den Stab hoch. Er kam sich albern vor, wie jemand vom Zirkus. Er wagte sich vorsichtig auf den Baumstamm und glitschte, einen Fuß vor den anderen setzend, vorsichtig dem anderen Ufer entgegen. Jede seiner Bewegungen schien zu bewirken, dass der Baum schaukelte und bebte. Er ging, hielt an, ging weiter.

Als die Hälfte der Strecke hinter ihm lag, nutzte Kniich, der in seiner Hemdtasche geschlafen hatte, die Gelegenheit, um den Kopf ins Freie zu schieben und sich umzuschauen. Als er das tosende Gewässer unter sich sah, stieß er ein Gebrüll aus, sprang aus der Tasche und krallte sich in Toms Haar.

Tom war so überrascht, dass ein Ende des Stabes nach unten sackte. In seiner Panik riss er es wieder hoch, doch die Schwungkraft der Bewegung hebelte das Holz fast senkrecht in die Höhe. Tom machte zwei rasche Schritte, um sein Gleichgewicht zu bewahren, doch dies führte nur dazu, dass die Behelfsbrücke umso heftiger federte.

Tom stürzte ab.

Den Bruchteil einer Sekunde hing er in der Luft, dann war ihm, als würde er von etwas Schwarzem und Eiskaltem verschluckt. Als die Strömung ihn packte, empfand er ein heftiges Zerren, einen Furcht erregenden Ansturm von Gewichtslosigkeit und dann plötzlich ein gewaltiges Brüllen. Er schlug mit den Armen um sich, versuchte nach oben zu kommen, doch er hatte keine Ahnung, wo oben überhaupt war. Dann spürte er, wie die Strömung ihn gegen ein Unterwasserdickicht aus Baumstämmen presste. Seine Arme fuchtelten herum. Ein schrecklicher Druck lastete auf seinem Brustkorb. Die Luft wurde ihm aus der Lunge gedrückt. Tom versuchte, sich mit Tritten abzustoßen, doch die ihn umgebenden Stämme waren glatt und der Druck stark. Ihm war, als würde er lebendig begraben. Vor seinen Augen zuckten Lichtblitze. Er öffnete den Mund zu einem Schrei, doch spürte er nur, wie der Druck seinen Mund füllte. Er drehte sich, rang verzweifelt nach Luft, versuchte, sich vom Gewirr der Äste zu befreien, und drehte sich erneut. Doch er hatte jegliche Orientierung verloren. Neue Lichtblitze erfüllten nun sein Blickfeld. Er drehte sich und trat um sich, aber er spürte schon, wie ihm die Kräfte schwanden. Er wurde leichter. Er wurde gewichtslos und ging weit, weit fort.