Tom verlor allmählich jegliches Zeitgefühl. Ihm wurde klar, dass das Ende nicht mehr fern war - der Augenblick, an dem er nicht mehr weiter konnte. Er fühlte sich eigenartig leer im Kopf. Tage und Nächte gingen ineinander über.
Einmal klatschte er in den Schlamm und blieb liegen, bis Sally ihn hochhievte. Eine halbe Stunde später, tat er das Gleiche für sie.
Sie erreichten ein freies Gebiet, auf dem ein umgestürzter Riesenbaum eine große Schneise ins Blätterdach gerissen hatte. Der Boden, der ihn umgab, war relativ eben. Der Baum war so gefallen, dass man unter seinem gewaltigen Stamm ein Quartier aufschlagen konnte.
Tom konnte kaum noch gehen. Alle kamen stillschwei-gend überein, hier Rast zu machen. Tom fühlte sich so schwach, dass er sich fragte, ob er überhaupt je wieder würde aufstehen können, wenn er sich jetzt hinlegte. Mit letzter Kraft schlugen sie Äste von dem Baum ab, richteten sie gegen den Stamm gelehnt auf und bedeckten sie mit Farn. Es schien gegen Mittag zu sein. Sie krochen unter das Schutzdach, hockten sich hin und legten sich auf dem nassen Boden in eine fünf Zentimeter dicke Schlammmasse.
Später unternahmen Sally und Tom einen weiteren Versuch, etwas zu erjagen, doch sie kehrten vor Einbruch der Dunkelheit mit leeren Händen zurück. Sie hockten sich unter den Stamm, während die lange Dunkelheit sich auf sie herabsenkte.
Im sterbenden Licht untersuchte Tom Philip. Er war in einem jämmerlichen Zustand. Inzwischen fieberte und phantasierte er. Seine Wangen waren stark eingefallen; er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Seine Arme sahen aus wie dünne Stecken, und seine Ellbogen waren verschwollen. Einige der sorgfältig behandelten Infektionen hatten sich erneut geöffnet. Die Maden waren wieder da. Tom hatte das Gefühl, dass ihm das Herz brach. Sein Bruder lag im Sterben.
Irgendwie wusste er auch, dass keiner von ihnen die elen-de kleine Lichtung je lebend wieder verlassen würde.
Die teilnahmslose Apathie des beginnenden Hungertodes bemächtigte sich eines jeden. Tom lag den größten Teil dieser Nacht wach, da er keinen Schlaf fand. In dieser Nacht hörte der Regen auf, und als der Morgen graute, schien über den Baumwipfeln die Sonne. Zum ersten Mal seit Wochen konnte man den blauen Himmel sehen - er war makellos. Sonnenstrahlen fielen durch die Lücken zwischen den Baumwipfeln. Flutende Sonne fing Insektenschwärme ein und ließ sie wie wirbelnde Lichttornados wirken. Vom Stamm des Riesenbaumes stieg Dampf auf.
Welch eine Ironie das doch war: Die Lücke zwischen den Baumkronen ließ ein vollkommenes Abbild der Sierra Azul sehen. Da bewegten sie sich seit einer Woche in die entge-gengesetzte Richtung, und die Berge schienen näher denn je zuvor: Ihre Gipfel ragten über die Wolkenfetzen und waren so blau wie geschliffene Saphire. Tom empfand nun keinen Hunger mehr. So ist es eben, wenn man verhungert, dachte er.
Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. Sie gehörte Sally.
»Komm mal her«, sagte sie mit ernster Stimme.
Tom empfand plötzlich Angst. »Geht's um Philip?«
»Nein. Um Don Alfonso.«
Tom stand auf und folgte ihr unter dem Stamm zu der Stelle, an der Don Alfonsos Hängematte direkt über dem feuchten Boden baumelte. Ihr Führer lag auf der Seite und musterte die Sierra Azul. Tom hockte sich neben ihn und nahm seine welke alte Hand. Sie war heiß.
»Tut mir Leid, Tomasito, aber ich bin ein nutzloser alter Mann. Ich bin so nutzlos, dass ich sterbe.«
»Sagen Sie nicht so was, Don Alfonso.« Tom legte seine Hand auf die Stirn des Indianers und bekam einen Schreck, denn sie war sehr heiß.
»Der Tod ruft mich. Da kann man nicht sagen: >Komm nächste Woche wieder; ich muss noch was erledigen^«
»Haben Sie in der letzten Nacht wieder von Petrus oder dergleichen geträumt?«, fragte Sally.
»Man braucht nicht von Petrus zu träumen, wenn man weiß, wann das Ende gekommen ist.«
Sally schaute Tom kurz an. »Hast du irgendeine Ahnung, was er hat?«
»Ohne richtige Diagnose, ohne Blutbild oder ein Mikros-kop ...« Tom murmelte eine Verwünschung, dann stand er auf und kämpfte gegen eine Woge des Schwindels an. Wir sind fertig, dachte er. Es machte ihn eigenartigerweise wütend. Es war ungerecht.
Er verdrängte die nutzlosen Gedanken und schaute sich Philip an. Sein Bruder schlief. Er hatte, wie Don Alfonso, hohes Fieber. Tom war sich keinesfalls sicher, ob er je wieder erwachen würde. Vernon zündete inzwischen ein Feuer an. Er ignorierte Don Alfonsos Einwände. Sally braute einen medizinischen Tee für den Sterbenden. Sein Gesicht war eingefallen und schien nach innen zu sinken; seine Haut verlor ihre Farbe und nahm einen wächsernen Ton an.
Er atmete schwer, war aber noch bei Bewusstsein. »Ich werde Ihren Tee zwar trinken, Curandera«, sagte er, »aber Ihre Medizin wird mich nicht retten.«
Sally hockte sich hin. »Sie reden sich ein, dass Sie sterben, Don Alfonso. Sie können es sich aber auch wieder ausre-den.«
Don Alfonso nahm ihre Hand. »Nein, Curandera, meine Zeit ist gekommen.«
»Das können Sie doch gar nicht wissen.«
»Mein Tod wurde mir prophezeit.«
»Hören Sie doch mit diesem absurden Unsinn auf. Sie können doch nicht in die Zukunft sehen!«
»Als ich ein kleiner Junge war, hatte ich mal starkes Fieber. Da nahm meine Mutter mich mit zu einer Bruja - einer Hexe. Diese Bruja erzählte mir, ich müsse noch nicht sterben, denn ich würde fern von zu Hause sterben, unter Fremden - und im Angesicht blauer Berge.« Er warf einen Blick auf die Sierra Azul, die sich durch die Lücke zwischen den Baumwipfeln abzeichnete.
»Vielleicht hat sie ja irgendwelche anderen blauen Berge gemeint.«
»Sie hat diese Berge gemeint, Curandera, denn sie sind so blau wie das Meer.«
Sally blinzelte eine Träne fort. »Hören Sie mit dem Quatsch auf, Don Alfonso.«
Don Alfonso lächelte plötzlich. »Ist es nicht wunderbar, wenn eine schöne Frau am Sterbebett eines alten Zausels weint.«
»Das ist nicht Ihr Sterbebett. Außerdem weine ich gar nicht.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Curandera. Es kommt nicht überraschend für mich. Als ich zu dieser Reise aufbrach, wusste ich, dass es meine letzte sein würde. In Pito Solo war ich ein nutzloser Greis. Ich wollte aber nicht als schwacher alter Trottel in meiner Hütte sterben. Ich, Don Alfonso Boswas, wollte als Mann sterben.« Er hielt inne, atmete ein und schauderte.
»Ich habe mir natürlich nicht vorgestellt, dass ich unter einem verfaulten Baum im stinkenden Schlamm sterbe und euch allein lassen muss.«
»Dann sterben Sie einfach nicht! Wir lieben Sie, Don Alfonso. Und die Hexe soll zur Hölle fahren!«
Don Alfonso nahm ihre Hand und lächelte. »In einem hat sie sich übrigens geirrt, Curandera. Sie hat gesagt, ich würde unter Fremden sterben. Aber das stimmt nicht. Ich sterbe unter Freunden.«
Don Alfonso schloss die Augen und murmelte etwas.
Dann war er tot.
45
Sally weinte. Tom stand auf und schaute weg. Er merkte, wie seine unerklärliche Verärgerung zunahm. Er spazierte ein Stück in den Wald hinein. Dann setzte er sich auf einer stillen Schneise auf einen Baumstamm und ballte die Fäuste. Der alte Mann hatte kein Recht, sie zu verlassen. Er hatte sich seinem Aberglauben völlig hingegeben. Er hatte sich das Sterben selbst eingeredet - und das nur, weil er die blauen Berge gesehen hatte.
Tom dachte an den Tag zurück, an dem sie Don Alfonso begegnet waren: wie er auf dem kleinen Hocker in seiner Hütte gesessen, die Machete geschwungen und sie auf den Arm genommen hatte. Es schien ihm ein ganzes Leben her zu sein.
Sie hoben in dem schmutzigen Boden ein Grab aus. Es war eine langsame, erschöpfende Arbeit, und sie waren so schwach, dass sie die Schaufel kaum heben konnten. Tom dachte fortwährend: Werde ich dies auch für Philip tun müssen? Morgen? Gegen Mittag war das Grab fertig. Sie hüllten Don Alfonsos Leiche in seine Hängematte, trugen ihn zu dem mit Wasser voll gelaufenen Loch und warfen ihm einige feuchte Blumen hinterher. Dann füllten sie das Grab mit schlammiger Erde. Tom bastelte ein einfaches Kreuz, das er mit Lianen zusammenband und am Kopfteil des Grabes in den Boden rammte. Danach blieben sie eine Weile stehen und fühlten sich unbehaglich.