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Tom beobachtete seinen Vater beim Essen. Er konnte es kaum fassen, dass sein alter Herr noch lebte. Die Sache hatte etwas Unwirkliches. Alles hatte sich verändert - und nichts.

Broadbent beendete die Mahlzeit, dann lehnte er sich an die Steinwand und betrachtete die Berge.

»Kannst du uns vielleicht erzählen, wie es in der Grabkammer war, Vater?«, erkundigte sich Philip.

»Ich erzähle euch, wie es war, Philip. Wir haben meine Bestattung ausgiebig gefeiert. Borabay hat euch zweifellos davon erzählt. Ich habe Cahs Höllentrunk geschluckt. Dann kam ich wieder zu mir. Um mich herum war es pech-schwarz. Als wackerer Atheist habe ich immer geglaubt, der Tod sei das Ende des Bewusstseins. Und damit wäre es das dann. Aber obwohl ich genau wusste, dass ich tot war, war ich noch immer bei Bewusstsein. Ich hatte noch nie solche Angst. Als ich mich in absoluter Panik durch die Finsternis tastete, kam mir plötzlich eine Idee: Du bist nicht nur tot, du bist in der Hölle.«

»Das hast du ja wohl nicht wirklich geglaubt«, meinte Philip.

Broadbent nickte. »Doch. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie entsetzt ich war. Ich hab bloß noch gejammert und geheult wie eine verirrte Seele. Ich habe zu Gott gebetet - auf den Knien. Ich habe bereut und ihm geschworen, dass ich immer ein guter Mensch sein würde, wenn er mir noch eine zweite Chance einräumte. Ich kam mir vor wie einer der armen Säufer in Michelangelos Jüngstem Tag, die um Vergebung winseln, während sie von Teufeln in den Feuersee gezerrt werden.

Als ich vom Wehklagen und vom Selbstmitleid erschöpft war, kehrte meine geistige Gesundheit zum Teil zurück. Ich bin herumgekrochen und hab festgestellt, dass ich in der Grabkammer war. Dann dämmerte mir allmählich, dass ich nicht tot war; dass Cah mich lebendig begraben hatte. Er hat mir nie verziehen, was ich seinem Vater angetan hatte.

Ich hätte es wissen müssen. Cah hatte was von einem ver-schlagenen alten Fuchs. Als ich die Nahrung und das Wasser fand, wusste ich, dass mir eine lange Prüfung bevorstand. Ich hatte alles als unbeschwerte Aufgabe für euch drei geplant. Jetzt hing plötzlich mein Leben von eurem Erfolg ab.«

»Eine unbeschwerte Aufgabe«, wiederholte Philip skeptisch.

»Der Schock sollte euch dazu bringen, mit eurem Leben etwas Sinnvolleres anzufangen. Mir war überhaupt nicht klar, dass ihr alle längst etwas Sinnvolles tut - beziehungsweise, dass ihr das Leben führt, dass ihr eben führen wollt.

Wer bin ich, dass ich so etwas verurteile?« Er räusperte sich und schüttelte den Kopf. »Nun war ich mit dem eingeschlossen, was ich für meinen Schatz hielt - meinem Lebenswerk. Aber es war nutzloser Schrott. Es bedeutet mir plötzlich nichts mehr. Ich konnte den Schatz in der Dunkelheit nicht mal erkennen. Es hat mich bis ins Mark erschüttert, dass ich lebendig begraben war. Ich habe über mein ganzes Leben nachgedacht und fand es abscheulich. Ich war euch ein schlechter Vater. Ich war auch ein schlechter Ehemann. Ich war habgierig und egoistisch. Und dann habe ich mich beim Beten ertappt.«

»Nein«, sagte Philip.

Broadbent nickte. »Was hätte ich denn sonst tun sollen?

Und dann hab ich Stimmen, ein Klopfen und ein rumpeln-des Geräusch gehört. Licht fiel zu mir rein - und ihr wart alle da! Meine Gebete sind erhört worden.«

»Soll das etwa heißen«, fragte Philip, »dass du zur Religi-

on gefunden hast? Dass du gläubig bist?«

»Ja, verdammt, du hast absolut Recht!« Broadbent verfiel in Schweigen. Er blickte auf die gewaltige Landschaft, die sich unter ihnen ausbreitete, die endlosen Berge und Urwäl-der. Dann rutschte er hüstelnd hin und her. »Komisch, mir ist, als wäre ich gestorben und neu geboren.«

69

In seinem Versteck hörte Hauser das Murmeln der vom Wind nach oben getragenen Stimmen. Er verstand zwar die einzelnen Worte nicht, hegte aber keinen Zweifel, was da unten vor sich ging: Sie freuten sich königlich und plünder-ten die Grabkammer ihres Vaters. Bestimmt wollten sie die kleineren Gegenstände - den Codex eingeschlossen - mitnehmen. Die Frau, Sally Colorado, wusste um den Wert des Manuskripts. Der Codex würde das Erste sein, was sie an sich nahmen.

Im Geist ging Hauser die Liste der restlichen in der Grabkammer liegenden Schätze durch. Ein Großteil von Maxwell Broadbents Sammlung - einschließlich der wertvoll-sten Stücke - ließ sich transportieren. Dazu gehörten einige seltene Edelsteine aus Vorderindien und eine große Sammlung von Goldartefakten aus dem Besitz der Azteken und Mayas. Es handelte sich in der Regel um kleine Objekte, was auch für die antiken griechischen Goldmünzen galt. Er wusste auch von zwei sehr wertvollen etruskischen Bronze-figurinen, die ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter groß waren und knapp zwanzig Pfund wogen. All dies konnte ein einzelner Mann auf dem Rücken tragen. Wert: zwischen zehn und zwanzig Millionen.

Sie konnten auch den Lippi und den Monet mitnehmen.

Die Gemälde waren relativ klein - der Lippi maß rund 70 mal 45 Zentimeter, der Monet 90 mal 65. Beide waren ungerahmt verpackt worden. Der auf gegipstes Holz gemalte Lippi wog zehn Pfund, der Monet acht. Die beiden Kisten, in denen sie verstaut waren, brachten einzeln höchstens dreißig Pfund auf die Waage. Sie konnten zusammenge-bunden, auf einen Tragrahmen geschnallt auf dem Rücken abtransportiert werden. Wert: über hundert Millionen.

Aber es gab da unten natürlich auch jede Menge Schätze, die sich nicht mitnehmen ließen. Der Pontormo, dessen Wert zwischen dreißig und vierzig Millionen lag, war zu groß. Und das galt auch für das Bronzino-Porträt. Die Maya-Säulen und die Soderini-Bronzen waren zu schwer.

Aber die beiden Braques konnte man tragen. Das kleinere Gemälde gehörte zu Braques frühesten kubistischen Mei-sterwerken und würde zwischen fünf und zehn Millionen einbringen. Dann war da noch die altrömische Bronzestatue eines Knaben im Maßstab 1:2, die einen Zentner wog - möglicherweise zu viel, um sie fortzuschleppen. Und die kambodschanischen Tempelfigurinen aus Stein, ein paar alte chinesische Bronzeurnen, einige Maya-Mosaike, Gedenkta-feln ... Max hatte gute Augen. Er hatte stets auf Qualität geachtet. Quantität galt ihm nichts. Im Lauf der Jahre waren eine Menge Kunstwerke durch seine Hände gegangen, und er hatte nur das Allerbeste für sich behalten.

Ja, dachte Hauser, wenn ich nicht hier wäre, könnte das Quar-tett da unten jetzt Kunstwerke im Wert von fast zweihundert Millionen Dollar abschleppen. Fast die Hälfte des Wertes der kompletten Sammlung.

Er wechselte die Position und streckte seine verkrampften Beine aus. Die Sonne war hell und heiß. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Fünf vor zehn. Er hatte sich vorgenommen, um zehn in Aktion zu treten. Hier draußen war die Zeit zwar von geringer Bedeutung, doch er hatte irgendwie Freude an der gewohnten Disziplin. Seiner Ansicht nach war Disziplin mehr eine Lebensphilosophie als alles andere. Er stand auf, reckte sich und atmete mehrmals tief durch. Dann überprüfte er schnell seine Steyr AUG. Sie war, wie üblich, im Bestzustand. Hauser glättete sein Haar, dann warf er einen kritischen Blick auf seine Fingernägel.

Unter einem Nagel entdeckte er einen Schmutzrand. Er kratzte ihn mit der Spitze seiner Nagelfeile ab und schnippte ihn weg. Dann begutachtete er seine Handrücken. Sie waren glatt, haarlos und weiß und zeigten nur einen ganz feinen Anflug von Adern. Es waren die Hände eines Drei-

ßigjährigen, nicht die eines Mannes von sechzig. Er hatte seine Hände stets gepflegt. Die Sonne funkelte auf einer Phalanx dicker Gold- und Diamantringe. Er bewegte mehrmals seine Finger, dann schüttelte er die Falten aus der Khakihose, ließ die Fußknöchel spielen, drehte den Kopf fünfmal hin und her, streckte die Arme weit aus und holte wieder Luft. Er atmete aus. Und ein. Er begutachtete sein frisches weißes Hemd. Wenn die Sache über die Bühne gegangen war, ohne dass sein Hemd Flecken aufwies, konnte man das Unternehmen als Erfolg betrachten. Es war tatsächlich eine Plage, seine Klamotten im Dschungel sauber zu halten.