Ihr wollt jetzt genau das gleiche tun: Ihr wollt Blei mit Blut vermischen, weil ihr sicher seid, daß es sich in das Gold verwandelt, das ihr in Händen haltet. Einerseits habt ihr natürlich recht. Andererseits wird das Gold, das so schnell in eure Finger gelangte, ebenso schnell wieder zwischen ihnen zerrinnen.«
Obschon der Fremde nicht verstand, was die junge Frau meinte, hoffte er inständig, Chantal würde weiterreden, denn er merkte, daß in einem dunklen Winkel seiner Seele das vergessene Licht wieder zu leuchten begann.
»Wir alle haben in der Schule die berühmte Geschichte vom König Midas gehört, die von einem Menschen handelt, dem Gott jeden Wunsch zu erfüllen verspricht. Midas war bereits sehr reich, aber er wollte noch reicher werden. Darum erbat er sich, daß alles, was er berührte, sich in Gold verwandle.
Ich will kurz euer Gedächtnis auffrischen: Erst verwandelte Midas seine Möbel in Gold, seinen Palast und alles drum herum. Er arbeitete einen ganzen Vormittag und hatte dann einen goldenen Garten, goldene Vögel, goldene Treppen.
Mittags verspürte er Hunger und wollte essen. Aber als er die saftige Lammkeule ergriff, die seine Diener ihm zubereitet hatten, wurde auch sie zu Gold. Er hob sein Weinglas, und auch der Wein wurde zu Gold. Verzweifelt lief er zu seiner Frau und bat sie um Hilfe, denn nun hatte er begriffen, daß er einen Fehler gemacht hatte. Als er ihren Arm berührte, wurde auch sie zu Gold.
Die Diener rannten aus Furcht, ihnen könnte das gleiche geschehen, davon. Noch vor Ablauf einer Woche war Midas, von Gold umgeben, an Hunger und Durst gestorben.«
»Warum erzählen Sie uns diese Geschichte?« fragte die Bürgermeistersfrau, die den Goldbarren sofort auf den Boden zurücklegte und neben ihren Mann trat. »Ist etwa ein Gott nach Bescos gekommen und hat uns diese Fähigkeit verliehen?«
»Wir können zwei Dinge tun: den Schmied bitten, diese Barren zu schmelzen und in zweihundertachtzig gleiche Teile zu teilen, und jeder geht in die Stadt und tauscht sein Stück ein. Das wird umgehend das Mißtrauen der Behörden wecken, denn in diesem Tal gibt es kein Gold. Sie werden nachfragen, und wir werden sagen, wir hätten einen keltischen Schatz gefunden.
Eine schnelle Untersuchung wird ergeben, daß dies erst kürzlich eingeschmolzenes Gold ist, daß hier bereits Ausgrabungen gemacht worden sind, daß die Kelten kein Gold in diesen Mengen hatten - sonst hätten sie eine große, prächtige Stadt an dieser Stelle errichtet.«
»Sie sind ein unwissendes junges Ding«, sagte der Besitzer der Ländereien. »Wir werden die Barren genauso lassen, wie sie sind, mit dem Regierungsstempel und allem. Wir gehen zur Bank, tauschen sie ein und teilen das Geld untereinander.«
»Das ist das zweite Problem. Der Bürgermeister nimmt die Barren, geht damit zur Bank und bittet, sie ihm in Geld einzutauschen. Der Kassierer der Bank wird keine Fragen stellen, wie er es mit uns täte, wenn wir kämen und einen Goldbarren eintauschen wollten. Da der Bürgermeister eine Respektsperson ist, würde er ihn nur um die Kaufpapiere für die Goldbarren bitten. Der Bürgermeister würde sagen, er habe sie nicht, aber - wie seine Frau gerade sagte - hier ist der Regierungsstempel, und er ist echt. Hier ist die Seriennummer.
Zu diesem Zeitpunkt ist der Mann, der uns das Gold gegeben hat, bereits über alle Berge. Der Kassierer würde um etwas Zeit bitten, denn obwohl er den Bürgermeister kennt und weiß, daß er ein ehrlicher Mann ist, braucht er eine Genehmigung, um so viel Geld auszuzahlen. Man wird anfangen zu fragen, woher das Gold stammt. Der Bürgermeister wird sagen, es sei das Geschenk eines Fremden. Schließlich ist unser Bürgermeister ein intelligenter Mann und hat auf alles eine Antwort.
Daraufhin wird der Kassierer mit dem Leiter der Zweigstelle der Bank sprechen und dieser, obwohl er keinerlei Mißtrauen hegt, die Zentrale anrufen. Hier kennt niemand den Bürgermeister, und jede Auszahlung eines größeren Betrages wird mit Argusaugen beobachtet. Man bittet ihn, zwei Tage zu warten, damit die Herkunft der Goldbarren geklärt werden kann. Und was könnten sie herausfinden? Daß dieses Gold als gestohlen gemeldet ist. Oder daß es von einem Konsortium gekauft wurde, von dem man annimmt, es stehe den Drogenbaronen nahe.«
Sie hielt inne. Die Angst, die sie gehabt hatte, als sie zum ersten Mal versuchte, ihren Goldbarren zu nehmen, war nun die Angst aller. Die Geschichte eines Menschen ist immer die Geschichte der ganzen Menschheit.
»Denn dieses Gold hat eine Seriennummer. Ein Datum. Dieses Gold kann leicht identifiziert werden.«
Alle sahen den Fremden an, der nur einfach reglos dastand.
»Es bringt nichts, ihn zu fragen«, meinte Chantal. »Wir müssen darauf vertrauen, daß er die Wahrheit sagt, aber ein Mann, der andere bittet, ein Verbrechen zu begehen, verdient kein Vertrauen.«
»Wir könnten ihn solange hier festhalten, bis das Metall zu Geld gemacht ist«, schlug der Schmied vor. Der Fremde blickte zur Wirtin hinüber und schüttelte stumm den Kopf.
»Er ist unberührbar. Wahrscheinlich hat er mächtige Freunde.
Er hat in meinem Beisein verschiedene Leute angerufen, Tickets reserviert. Wenn er verschwindet, würden sie wissen, daß er entführt wurde, und sie würden nach Bescos kommen, um ihn zu suchen.«
Chantal legte ihren Goldbarren auf den Boden und ging aus der Schußlinie. Die anderen Frauen taten es ihr gleich.
»Ihr könnt jetzt schießen, wenn ihr wollt. Aber ich weiß, daß dies nur eine Falle des Fremden ist, und weigere mich, etwas mit diesem Verbrechen zu tun zu haben.«
»Nichts wissen Sie«, sagte der Besitzer der Ländereien.
»Wenn ich recht habe, dann wird der Bürgermeister sehr bald schon hinter Schloß und Riegel sitzen, und die Leute werden nach Bescos kommen, um herauszufinden, wem er diesen Schatz gestohlen hat. Jemand wird es ihnen erklären müssen.
Ich werde es allerdings nicht sein.
Aber ich verspreche, den Mund zu halten. Ich werde nur sagen, daß ich nicht weiß, was geschehen ist. Ansonsten ist der Bürgermeister jemand, den wir kennen - anders als der Fremde, der Bescos morgen verlassen wird. Vielleicht nimmt er die Schuld ganz allein auf sich, sagt, daß er einen Mann beraubt hat, der in Bescos aufgetaucht ist und eine Woche hier verbracht hat. Er wird von uns allen als Held angesehen, das Verbrechen wird nie aufgedeckt werden, und wir leben unser Leben weiter - allerdings so oder so ohne das Gold.«
»Das werden wir gerade nicht tun«, sagte der Bürgermeister, zuversichtlich, daß keiner auf diese Verrückte hören würde.
Dennoch hörte man kurz darauf, wie der erste Gewehrlauf heruntergeklappt wurde.
»Habt Vertrauen in mich«, schrie der Bürgermeister.
Doch die Antwort war ein weiteres Klicken eines Gewehrlaufs, der abgeknickt wurde, und dann noch eins und noch eins, bis fast alle Gewehrläufe abgeknickt waren. Hatte man Politikern je vertrauen können? Nur die Gewehrläufe des Bürgermeisters und des Priesters waren noch schußbereit; einer wies auf Chantal Prym, der andere auf Berthe. Doch der Holzfäller, der eben noch ausgerechnet hatte, wie viele Geschosse den Leib der alten Frau durchbohren würden, entriß ihnen die Gewehre.
Chantal Prym hatte recht: Anderen glauben war immer riskant.
Plötzlich schienen das alle gemerkt zu haben, denn die Menge begann sich zu zerstreuen.
Schweigend stiegen sie, die Ältesten voran, die Jüngeren hinterher, den Hang hinunter und versuchten in ihre Alltagssorgen zurückzufinden: das Wetter, die Schafe, die geschoren, die Felder, die gepflügt werden mußten, die Jagd, die bald beginnen würde. Nichts war passiert, denn Bescos war ein gottverlassenes Nest, in dem ein Tag war wie der nächste.
Und jeder sagte sich, daß dieses Wochenende nur ein Traum gewesen war.