Die riesige, lärmende Staatskanzlei war heute noch verwirrender als sonst. Vater Helfcenes in Kutten gehüllte Gehilfen eilten hin und her und von einem Raum zum andern oder drängten sich zu zitternd geführten Debatten in der kalten, schneeflockigen Luft der Höfe zusammen. Einige von ihnen, die gerollte Papiere in der Hand und eine zerstreute Miene im Gesicht trugen, versuchten Simon für Gänge zum Archivsaal einzuspannen, aber er schwindelte sich durch und behauptete, er sei für Doktor Morgenes unterwegs.
Im Vorzimmer des Thronsaales blieb er stehen und tat, als bewundere er die gewaltigen Mosaiken, während er darauf wartete, daß der letzte Kanzleipriester vorbeigeeilt und auf der anderen Seite in der Kapelle verschwunden sein würde. Als dieser Augenblick gekommen war, hebelte er die Tür auf und schlüpfte in den Thronsaal.
Die riesigen Angeln knarrten, dann war es still. Simons Schritt hallte von allen Wänden, verstummte dann und verschmolz endlich mit dem tiefen, atmenden Schweigen. Sooft er auch durch den Thronsaal schlich – und er war, soweit er wußte, mehrere Jahre der einzige Bewohner der Burg gewesen, der ihn noch zu betreten gewagt hatte –, nie schien er ihm anders als ehrfurchteinflößend.
Erst letzten Monat, nach König Johans unerwartetem Aufstehen vom Krankenbett, hatten Rachel und ihr Geschwader endlich wieder die verbotene Schwelle überschritten. Sie hatten sich einen zwei Wochen dauernden Angriff auf Jahre voller Staub und Schmutz gegönnt, auf zerbrochenes Glas, Vogelnester und die Netze von Spinnen, die längst zu ihren achtbeinigen Ahnen versammelt waren. Doch trotz solchen unbarmherzigen und unversöhnlichen Reinemachens strahlte der Thronsaal selbst in gründlich gereinigtem Zustand, mit gescheuerten Bodenplatten und abgewaschenen Wänden und manchen von ihrer Rüstung aus Staub befreiten Bannern (es waren bei weitem nicht alle), etwas von Alter und Stille aus. Hier schien die Zeit nur an den gemessenen Schritt des Altertums gebunden.
Das Podest stand am äußersten Ende des großen Saals in einem Teich aus Licht, das sich aus einem Ornamentfenster des Deckengewölbes ergoß. Darauf erhob sich der Drachenbeinthron wie ein fremdartiger Altar – leer, von leuchtenden, tanzenden Staubkörnern umschwebt und flankiert von den Standbildern der sechs Hochkönige des Hochhorstes.
Die Knochen des Thrones waren mächtig, dicker als Simons Beine, und so geglättet, daß sie stumpf glänzten wie polierter Stein. Mit wenigen Ausnahmen hatte man sie so zerteilt und wieder zusammengesetzt, daß man, so deutlich auch ihre Größe zu erkennen war, nur schwer erkennen konnte, in welchem Teil des gewaltigen Feuerlindwurmkörpers sie einst verborgen gewesen waren. Nur die Rückenlehne des Thrones, ein riesenhafter, sieben Ellen hoher Fächer aus gebogenen, gelben Rippen hinter den Samtpolstern des Königs, der weit über Simons Kopf hinausragte, war sofort als das auszumachen, was sie war. Gleiches galt für den Schädel. Über der Rückenlehne des großen Thrones ragte er so weit hervor, daß er als Sonnendach dienen konnte, falls jemals mehr als ein dünner Streifen Sonnenlicht in den düsteren Saal eindringen sollte. Es waren Hirnschädel und Kiefer des Drachen Shurakai. Die Augenhöhlen erschienen Simon wie zerbrochene schwarze Fenster, die Zähne wie braune Spieße, so lang wie seine Hand. Der Drachenschädel hatte die Farbe alten Pergamentes und war von einem Netz winziger Risse überzogen, und doch lebte etwas an ihm, war schrecklich-wundervoll lebendig.
Überhaupt besaß der ganze Raum etwas Erstaunliches, Heiliges, das weit über Simons Verstand hinausreichte. Der Thron aus schweren, vergilbten Gebeinen, die massiven schwarzen Figuren, die in dem hohen, verlassenen Saal einen leeren Sitz bewachten, das alles schien von einer furchtbaren Macht erfüllt zu sein. Es war, als hielten alle acht Personen im Raum, der Küchenjunge, die Statuen, der ungeheure, augenlose Schädel, den Atem an.
Diese gestohlenen Momente versetzten Simon in stille, fast angstvolle Verzückung. Vielleicht harrten die Malachitkönige nur mit schwarzer, steinerner Geduld darauf, daß der Junge mit lästerlicher Plebejerhand den Drachenbeinthron berührte … harrten … harrten … und würden plötzlich mit einem grauenvollen, knarrenden Geräusch zum Leben erwachen! Simon bebte vor nervösem Vergnügen über seine eigenen Vorstellungen, machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn und musterte die dunklen Gesichter. Ihre Namen waren ihm einst so vertraut gewesen, ganz unsinnig aneinandergereiht in einem Kinderreim, einem Reim, den Rachel – Rachel? Er konnte sich nicht genau erinnern – ihm beigebracht hatte, als er noch ein kichernder Affe von vielleicht vier Jahren gewesen war. Wenn schon für ihn die eigene Kindheit so lange zurückzuliegen schien, fragte er sich plötzlich, wie mußte es dann bei Johan dem Priester sein, der so viele Jahrzehnte auf den Schultern trug? Unbarmherzig klar, so wie Simon sich an vergangene Demütigungen erinnerte, oder sanft und unbestimmt, wie Geschichten aus glorreicher Vergangenheit? Verdrängten die Erinnerungen die anderen Gedanken, wenn man alt war? Oder verlor man sie – die Kindheit, die verhaßten Feinde, die Freunde?
Wie ging der alte Reim noch? Sechs Könige…
Das war es!
Das waren die drei Rimmersgardkönige zur Linken des Thrones. War es nicht Fingil, von dem Morgenes gesprochen hatte, der Anführer des Schreckensheeres? Der die Sithi getötet hatte? Dann mußten zur Rechten der vergilbten Gebeine die anderen stehen.
Ha! Simon starrte in das traurig verzogene Gesicht des Reiherkönigs und weidete sich an dem Anblick. Mein Gedächtnis ist besser, als die meisten Leute hier glauben – besser als das der meisten Mondkälber! Natürlich gab es jetzt endlich einen siebten König im Hochhorst – den alten Priester Johan. Simon überlegte, ob wohl jemand irgendwann dem Lied einen Vers über Johan Presbyter hinzufügen würde.
Die sechste Statue, der rechten Armlehne des Thrones am nächsten, mochte Simon am liebsten. Sie stellte den einzigen gebürtigen Erkynländer dar, der je auf dem großen Thron des Hochhorstes gesessen hatte. Er trat näher, um in die tief eingemeißelten Augen des heiligen Eahlstan zu blicken, den man Eahlstan Fiskerne nannte, weil er vom Fischervolk des Gleniwent abstammte, oder auch den Märtyrer, weil auch ihn der Feuerdrache Shurakai tötete, das Untier, das dann endlich von Johan dem Priester vernichtet wurde.
Anders als bei Ikferdig dem Verbrannten auf der anderen Seite des Thrones war das Gesicht des Fischerkönigs nicht von Furcht und Zweifel verzerrt dargestellt. Vielmehr hatte der Bildhauer strahlenden Glauben in das steinerne Antlitz gelegt und den undurchsichtigen Augen den Anschein gegeben, als schauten sie ferne Dinge. Der längstverstorbene Meister hatte Eahlstan demütig und ehrfürchtig, zugleich aber auch kühn gestaltet. In seinen geheimen Gedanken stellte sich Simon oft vor, sein eigener Vater, der Fischer, hätte so ausgesehen.