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Einen Augenblick machte Sludig noch ein verständnisloses Gesicht, dann nickte er langsam mit dem Kopf. »Gesegnete Elysia, Troll – der Udun-Baum. Warum habe ich nur nicht daran gedacht? Natürlich, der Udun-Baum!«

»Kennst du den Ort, den Binabik meint?« Simon begann allmählich zu begreifen.

»Natürlich. Es ist eine von unseren uralten Sagen – ein Baum ganz aus Eis. Es heißt, Udun habe ihn wachsen lassen, um daran in den Himmel hinaufzuklettern und sich zum König über alle Götter zu machen.«

»Aber was nützt uns diese Sage?« hörte Simon Haestan fragen, und noch während die Worte an sein Ohr drangen, fühlte er, wie sich eine sonderbare, schwere Kälte über ihn legte wie eine Decke aus Graupelschnee. Der eisige weiße Baum … er sah ihn wieder vor sich: der weiße Stamm, der in die Dunkelheit hinaufragte, der uneinnehmbare weiße Turm, ein hoher, drohender, bleicher Streifen auf schwarzem Hintergrund … er stand mitten auf Simons Lebensweg, und irgendwie wußte der Junge, daß er ihn nicht umgehen konnte … daß kein Weg um den schlanken weißen Finger herumführte, der ihm winkte, ihn warnte, auf ihn wartete …

Der weiße Baum.

»Weil die Sage auch erzählt, wo er ist«, erklärte eine Stimme, nachhallend wie in einem langen Korridor. »Selbst wenn es ihn nicht geben sollte, wissen wir, daß Herr Colmund dem Weg gefolgt sein muß, den die Legende ihm wies – zur Nordwand des Urmsheim.«

»Sludig hat recht«, bestätigte jemand … Binabik. »Wir brauchen nur den Weg zu nehmen, den Colmund mit Dorn gegangen ist; nichts anderes ist mehr von Wichtigkeit.« Die Stimme des Trolls schien aus weiter Ferne zu kommen.

»Ich glaube … ich muß jetzt schlafen«, murmelte Simon mit schwerer Zunge. Er stand auf und stolperte vom Feuer weg, kaum bemerkt von den anderen, die sich lebhaft über Tagesritte und das Vorwärtskommen im Gebirge unterhielten. Er rollte sich in seinem dicken Mantel zusammen und fühlte, wie sich die verschneite Welt um ihn drehte, bis ihm schwindlig wurde. Simon schloß die Augen und glitt, obwohl er immer noch jedes Stoßen und Schwanken spürte, schwerfällig und wehrlos in traumtiefen Schlaf hinab.

Den ganzen nächsten Tag folgten sie der bewaldeten Schneebucht zwischen See und flacher werdenden Hügeln. Sie hofften, Haethstad an der Nordwestspitze des Sees bis zum späten Nachmittag zu erreichen. Wenn die Einwohner, beschlossen die Gefährten, nicht vor dem harten Winter geflohen und westwärts gezogen waren, sollte Sludig allein hinreiten, um die Vorräte zu ergänzen. Aber selbst wenn der Ort aufgegeben worden war, konnten sie vielleicht in einem verlassenen Herrenhaus Schutz für die Nacht finden und ihre Sachen trocknen, ehe sie die lange Reise über die Nördliche Öde antraten. Darum ritten sie einigermaßen zuversichtlich weiter und kamen auch am Seeufer gut voran.

Haethstad, ein aus etwa zwei Dutzend Langhäusern bestehendes Dorf, lag auf einer Landzunge, die kaum breiter war als der eigentliche Ort; vom Hang aus betrachtet, sah es aus, als wachse das Dorf aus dem gefrorenen See hervor.

Die ermutigende Wirkung des ersten Anblicks hielt jedoch nur bis etwa den halben Weg hinunter ins Tal. Danach zeigte sich immer deutlicher, daß die Gebäude zwar noch standen, aber nichts weiter als ausgebrannte Ruinen waren.

»Verflucht«, sagte Sludig wütend, »das ist nicht nur ein verlassenes Dorf, Troll. Man hat die Menschen vertrieben!«

»Wenn sie das Glück hatten, überhaupt noch herauszukommen«, murmelte Haestan.

»Ich glaube, ich muß dir Einwilligung zollen, Sludig«, bemerkte Binabik. »Trotzdem müssen wir hinab und uns umsehen, wie lange dieser Brand zurückliegt.«

Als sie in die Talsenke ritten, starrte Simon auf die verkohlten Überreste von Haethstad und mußte unwillkürlich an das ausgeglühte Skelett der Abtei von Sankt Hoderund denken.

Auf dem Hochhorst hat der Priester immer gesagt, daß Feuer reinigt, dachte er. Aber wenn das stimmt, warum hat dann jeder Angst vor dem Feuer, vor dem Brennen? Nun ja, bei Ädon, wahrscheinlich möchte niemand so ganz und gar gereinigt werden.

»O nein«, rief Haestan. Simon ritt fast auf ihn auf, als der große Wachsoldat sein Pferd zügelte. »Du guter Gott«, fügte der Erkynländer hinzu.

Simon spähte an ihm vorbei und gewahrte eine Reihe dunkler Gestalten, die sich jetzt aus den Bäumen am Ortseingang lösten und sich langsam auf die verschneite Straße zubewegten, keine hundert Ellen vor ihnen. Berittene Männer. Als sie ins Freie traten, zählte Simon sie … sieben, acht, neun. Sie waren sämtlich gepanzert. Ihr Anführer trug einen Helm aus schwarzem Eisen, der wie ein Hundekopf geformt war. Als er sich umdrehte, um seine Befehle zu erteilen, zeigte das Profil die geifernde Schnauze. Die neun ritten los.

»Der dort, der mit dem Hundekopf.« Sludig zog seine Äxte heraus und deutete auf die Näherkommenden. »Er hat den Überfall auf uns in Sankt Hoderund angeführt. Er ist es, dem ich noch etwas schuldig bin: für den jungen Hove und die Mönche im Kloster.«

»Mit denen werden wir nie fertig«, bemerkte Haestan ruhig. »Zerhacken werden sie uns – neun Männer gegen sechs, darunter ein Troll und ein Knabe.«

Binabik sagte nichts, sondern schraubte gelassen seinen Wanderstab auseinander, den er unter den Gurtriemen von Qantaqas Sattel geschoben hatte. Als er ihn wieder zusammensetzte, eine Sache von Sekunden, erklärte er: »Wir müssen fliehen.«

Sludig hatte bereits sein Pferd vorwärts gespornt, aber Haestan und Ethelbearn holten ihn nach wenigen Schritten ein und ergriffen seine Ellenbogen. Der Rimmersmann, der nicht einmal den Helm aufgesetzt hatte, versuchte sie abzuschütteln. In seinen blauen Augen lag ein ferner Blick.

»Gottverdammt, Mann!« rief Haestan, »komm mit! Unter den Bäumen haben wir wenigstens eine Chance!«

Der Führer der fremden Reiter rief etwas, und seine Männer setzten ihre Pferde mit Hilfe von Fußtritten in Trab. Von den Pferdehufen wallte weißer Nebel auf, als liefen sie über Meeresschaum.

»Dreh ihn um!« schrie Haestan Ethelbearn zu und packte die Zügel von Sludigs Roß, während er selbst umschwenkte. Ethelbearn versetzte dem Tier des Rimmersmannes mit dem Schwertgriff einen heftigen Schlag auf die Flanke, und sie machten vor den Heranreitenden kehrt, die jetzt in vollem Galopp und schreiend auf sie zuhielten und Beile und Schwerter schwangen. Simon zitterte so, daß er Angst hatte, er könnte aus dem Sattel fallen.

»Binabik! Wohin?« schrie er mit überschnappender Stimme.

»In die Bäume!« rief Binabik zurück, und Qantaqa machte einen Satz. »Tod würde es bedeuten, die Straße wieder hinaufzureiten. Vorwärts, Simon, und bleib mir nah!«

Jetzt bockten und traten die Rosse der Gefährten nach allen Seiten, als sie vom breiten Weg heruntergelenkt wurden, fort von Haethstads geschwärzten Ruinen. Irgendwie brachte Simon es fertig, den Bogen von seiner Schulter gleiten zu lassen; dann bückte er sich auf den Nacken des Pferdes und gab dem Tier die Sporen. Ein Sprung, bei dem ihm alle Knochen im Leib weh taten, dann jagten sie plötzlich durch den Schnee und in den immer dichter werdenden Wald hinein.

Simon sah noch Binabiks schmalen Rücken und das hüpfende Grau von Qantaqas Hinterteil, dann umgaben ihn schwindelerregend auf allen Seiten die Bäume. Hinter ihm erklangen Rufe; er drehte sich um und gewahrte seine dicht beieinander reitenden Gefährten, dahinter die dunkle Masse der Verfolger, die sich jetzt trennten und im Wald verteilten. Er hörte ein Geräusch wie von zerreißendem Pergament und nahm einen kurzen Augenblick wahr, wie in einem Baumstamm unmittelbar vor ihm ein Pfeil zitterte.

Überall war jetzt das gedämpfte Trommelfeuer der Hufschläge und dröhnte ihm in den Ohren, während er sich mit aller Kraft in seinem schwankenden Sattel festhielt. Plötzlich entrollte sich ein pfeifender schwarzer Faden und zerriß vor seinem Gesicht, dicht gefolgt von einem zweiten: Die Verfolger hatten sie seitlich überholt und schossen jetzt ihre Pfeile von der Flanke ab. Simon hörte sich selbst den stampfenden Gestalten etwas zuschreien, die um ihn herum durch die Bäume huschten, und ein paar weitere, zischende Geschosse sausten an ihm vorüber. An den Sattelknopf geklammert, streckte er die Hand mit dem Bogen aus, um einen Pfeil aus dem auf- und abhüpfenden Köcher zu ziehen; aber als er ihn vor sich hatte, sah er den Pfeil hell vor der Schulter des Rosses aufblitzen. Es war der Weiße Pfeil.