»Was … wo sind die anderen?« flüsterte Simon, aber Binabik gebot noch einmal Schweigen, diesmal mit kurzem, aber heftigem Kopfschütteln.
»Keine Zeit haben wir, keine Zeit … um dein Leben kämpfen wir.« Der Troll hob die Hände, und Simon, der den Bogen fallengelassen hatte, folgte seinem Beispiel, die Handflächen nach außen gekehrt. »Du hast, hoffe ich, den Weißen Pfeil nicht verloren?«
»Ich … weiß nicht.«
»Tochter der Berge, ich will es nicht hoffen. Wirf langsam deinen Köcher hin! So.« Er schnatterte noch ein paar Worte in dem, was Simon für die Sprache der Sithi hielt, und versetzte dem Köcher dann einen Tritt, daß die Pfeile über den zertretenen Schnee sprangen wie dunkle Mikadostäbe … alle bis auf einen, bei dem sich nur die dreieckige Spitze, perlblau wie ein flüssiger Tropfen Himmel, vom Weiß seiner Umgebung abhob.
»Oh, gepriesen seien die Stätten der Höhe«, seufzte Binabik. »Staj'a Ame ine!« rief er den Sithi zu, die ihn beobachteten wie Katzen, deren geflügelte Beute sich plötzlich umdreht und zu singen anfängt, anstatt fortzufliegen.
»Der Weiße Pfeil! Ihr müßt davon wissen! Im sheyis tsi-keo'su d'a Yana o Lingit!«
»Das ist … etwas Seltenes«, sagte der Sitha mit dem Bogen und senkte ihn ein Stück. Seine Aussprache klang fremd, aber er beherrschte die Westsprache ausgezeichnet. Er blinzelte. »Von einem Troll in den Regeln des Singens unterwiesen zu werden.« Das kalte Lächeln kehrte kurz zurück. »Du darfst uns mit deinen Ermahnungen verschonen … und mit deinen fragwürdigen Übersetzungen. Heb deinen Pfeil auf und bring ihn mir.« Er zischte den beiden anderen einige Worte zu. Die beiden Sithi warfen noch einen Blick auf Simon und den Troll und jagten dann mit erstaunlicher Geschwindigkeit den Berg hinauf. Unter ihren Füßen schien sich kaum der Schnee zu vertiefen, so rasch und leicht waren ihre Schritte. Der Zurückbleibende zielte weiterhin mit seinem Pfeil in Simons Richtung, während Binabik sich zu dem Köcher hinunterbückte und mit dem Weißen Pfeil in der Hand langsam vorwärtsstapfte.
»Gib ihn mir«, befahl der Sitha. »Federn voran, Troll. Und nun geh zurück zu deinem Gefährten.«
Er verringerte die Spannung seines Bogens, um den schlanken weißen Gegenstand zu untersuchen, wobei er den Pfeil vorwärtsgleiten ließ, bis die Sehne fast schlaff war und er den aufgelegten Pfeil und das Bogenholz mit einer Hand festhalten konnte. Simon bemerkte erst jetzt, wie flach und kratzend sein eigener Atem ging. Er ließ die zitternden Hände sinken. Binabiks Schritte knirschten im Schnee, als er sich neben Simon stellte.
»Er wurde diesem jungen Mann für einen Dienst verliehen, den er jemandem erwiesen hat«, erklärte Binabik trotzig. Der Sitha sah ihn an und zog die schrägen Brauen hoch.
Auf den ersten Blick schien er jenem Schönen sehr ähnlich zu sein, den Simon auf seiner Flucht zu Gesicht bekommen hatte – die gleichen hohen Wangenknochen und seltsam vogelähnlichen Bewegungen. Er trug Hose und Jacke aus schimmerndweißem Stoff, an Schultern, Ärmel und Gürtel mit schmalen, dunkelgrünen Schuppen gesprenkelt. Das Haar, fast schwarz, aber ebenfalls mit einem fremdartig grünen Unterton, war vor den Ohren zu zwei kunstvollen Zöpfen geflochten. Stiefel, Gürtel und Köcher bestanden aus weichem, milchweißem Leder. Simon begriff, daß er den Sitha nur sehen konnte, weil dieser hangaufwärts stand und sich vom grauen Himmel abhob; hätte der Schöne vor einem Schnee-Hintergrund gestanden, inmitten von Bäumen, wäre er unsichtbar gewesen wie der Wind.
»Isi-isi'ye!« murmelte der Sitha betroffen und hielt den Pfeil gegen die verhüllte Sonne. Dann ließ er ihn wieder sinken, starrte Simon einen Augenblick überrascht an und bekam schmale Augen.
»Wo hast du das gefunden, Sudhoda'ya?« fragte er barsch. »Wie kommt jemand wie du zu einem solchen Gegenstand?«
»Es war ein Geschenk!« antwortete Simon, dessen Wangen allmählich wieder Farbe annahmen. Auch seine Stimme hatte sich gekräftigt. Er wußte, was er wußte. »Ich habe einen Mann deines Volkes gerettet. Er schoß den Pfeil in einen Baum und verschwand.«
Wieder musterte der Sitha ihn prüfend und schien noch etwas sagen zu wollen. Dann wandte er jedoch seine Aufmerksamkeit dem Berghang zu. Ein Vogel trillerte einen langen, komplizierten Pfiff – das dachte zumindest Simon, bis er die leichte Bewegung der Lippen des weißgekleideten Sitha bemerkte, der still wie eine Statue wartete, bis ein anderer Triller ihm antwortete.
»Geht jetzt vor mir her«, gebot er, winkte dem Troll und dem Jungen mit seinem Bogen und machte kehrt. Mühsam kletterten sie den steilen Hang hinauf, leichtfüßig gefolgt von ihrem Ergreifer, der immer wieder langsam den Weißen Pfeil in seinen schmalen Fingern drehte.
Nach ein paar hundert Herzschlägen hatten sie die Bergkuppe erreicht und stiegen auf der anderen Seite wieder hinab. Dort hockten vier Sithi um einen von Bäumen eingefaßten, verschneiten Graben; die beiden, die Simon schon gesehen hatte, nur an der bläulichen Färbung der geflochtenen Haare erkennbar, und ein zweites Paar mit rauchgrauen Flechten, obwohl auch ihre goldenen Gesichter so faltenlos waren wie die der anderen. Auf dem Boden des Grabens, unter dem drohenden Viereck der Sithipfeile, saßen Haestan, Grimmric und Sludig. Alle drei wiesen Blutspuren auf und zeigten den hoffnungslos trotzigen Gesichtsausdruck in die Enge getriebener Tiere.
»Bei Sankt Eahlstans Gebeinen!« fluchte Haestan, als er die Neuankömmlinge erkannte. »Ach Gott, Junge, hab gehofft, du wärst über alle Berge.« Er schüttelte den Kopf. »Na, immer noch besser als tot, denk ich.«
»Siehst du es jetzt, Troll?« fragte Sludig, das bärtige Gesicht rot verschmiert, bitter. »Siehst du, was wir über uns gebracht haben? Dämonen! Nie hätten wir über ihn spotten dürfen … über den Dunklen.«
Der Sitha, der den Pfeil hielt und anscheinend der Anführer war, sagte ein paar Worte in seiner Sprache zu den anderen und machte Simons Gefährten ein Zeichen, aus der Grube hinauszuklettern.
»Nicht Dämonen sind sie«, erwiderte Binabik, während er und Simon sich mit den Beinen gegen den Boden stemmten, um den anderen beim Aufstieg zu helfen, im sich ständig bewegenden Schnee ein mühsames Unterfangen. »Sithi sind sie, und sie werden uns nichts Böses tun. Schließlich befiehlt ihnen das ihr eigener Weißer Pfeil.«
Der Sithiführer warf dem Troll einen unfreundlichen Blick zu, sagte jedoch nichts. Grimmric zog sich keuchend auf ebenen Boden hinauf. »Si … Sithi?« fragte er, nach Atem ringend. »Jetzt stecken wir mitten in den uralten Sagen, soviel steht fest. Sithivolk! Möge Usires Ädon uns alle schützen.« Er schlug das Zeichen des Baumes und streckte dann die Hand aus, um dem taumelnden Sludig zu helfen.
»Was ist denn eigentlich passiert?« fragte Simon. »Wie seid ihr … was wurde aus …?«
»Die Reiter, die hinter uns her waren, sind tot«, erklärte Sludig und sackte gegen einen Baumstamm. Seine Brünne war an mehreren Stellen durchlöchert, und sein Helm, der ihm vom Handgelenk baumelte, voller Kratzer und Beulen wie ein alter Topf. »Ein paar haben wir selber erledigt. Der Rest«, er machte eine schlaffe Handbewegung zu den Sithiwachen hinüber, »fiel, von ihren Pfeilen gespickt.«
»Sie hätten uns bestimmt auch erschossen, wenn der Troll nicht ihre Sprache gesprochen hätte«, ergänzte Haestan. Er zeigte Binabik ein schwaches Lächeln. »Wir haben nicht schlecht von dir gedacht, als du wegranntest. Haben sogar für dich gebetet.«
»Ich ging Simon suchen. Er ist mein Schützling«, erwiderte Binabik einfach.
»Aber…« Simon blickte sich um, hoffte wider besseres Wissen, sah keinen weiteren Gefangenen. »Dann … dann war es Ethelbearn, der gefallen ist? Bevor wir den ersten Berg erreichten?«
Haestan nickte langsam. »Ja.«
»Die Pest über ihre Seelen!« fluchte Grimmric. »Rimmersmänner waren es, diese mörderischen Bastarde!«