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»Wie wahr.« Haestan schüttelte betrübt den Kopf. »Ein kleiner Happen wäre jetzt schon recht. Und ein oder zwei Krüge.«

»Ich denke, wir werden nichts erhalten, bevor Jiriki uns nicht begrüßt hat«, meinte Binabik. »Aber wenn er wirklich derjenige ist, den Simon gerettet hat, essen wir vielleicht noch gut.«

»Glaubst du, daß er ein wichtiger Mann ist?« fragte Simon.

»An'nai nannte ihn ›den edlen Jiriki‹.«

»Sofern es nicht noch einen anderen gibt, der lebt und diesen Namen trägt…«, begann Binabik, wurde jedoch von dem zurückkehrenden An'nai unterbrochen. Mit ihm kam der gerade erwähnte Jiriki, den Weißen Pfeil in der Hand.

Mit einer Geste rief er zwei von den anderen Sithi herbei und befahl ihnen, die Gefangenen loszubinden. Dann drehte er sich um und sagte etwas Schnelles in seiner fließenden Sprache. Die melodischen Worte hatten einen vorwurfsvollen Unterton. An'nai hörte Jirikis Zurechtweisung, falls es so etwas war, ausdruckslos an und senkte lediglich den Blick.

Simon, der ihn genau beobachtete, war sicher, daß es sich – dachte man sich die blauen Flecke und Schnittwunden vom Angriff des Kätners weg – um denselben Sitha handelte.

Jiriki machte eine Handbewegung, und An'nai entfernte sich. Wegen seiner selbstsicheren Haltung und der Achtung, die seine Umgebung ihm zollte, hatte Simon ihn zunächst für älter gehalten, zumindest für ebenso alt wie die anderen Sithi. Jetzt aber, trotz der seltsamen Alterslosigkeit der goldenen Gesichter, hatte Simon plötzlich das Gefühl, der edle Jiriki sei, zumindest nach Sithi-Rechnung, noch jung.

Während die Gefangenen sich wieder Gefühl in die befreiten Handgelenke rieben, hielt Jiriki den Pfeil in die Höhe. »Vergebt das Warten. An'nai hat sich geirrt, weil er weiß, wie ernst ich das Shent-Spiel nehme.« Seine Augen wanderten von den Gefährten nach dem Pfeil und wieder zurück. »Ich hätte niemals geglaubt, dich wiederzusehen, Seoman«, sagte er mit einem vogelartigen Heben des Kinns und einem Lächeln, das seine Augen nie ganz erreichte. »Aber eine Schuld ist eine Schuld … und der Staj'a Ame bedeutet sogar noch mehr. Du hast dich verändert seit unserer ersten Begegnung. Damals ähneltest du mehr einem wilden Tier als deinen Mitmenschen. Du schienst auf mancherlei Weise verirrt.« Sein Blick brannte hell.

»Auch Ihr habt Euch verändert«, erwiderte Simon.

Über Jirikis eckige Züge huschte ein Anflug von Schmerz. »Drei Nächte und zwei Tage hing ich in der Falle jenes Sterblichen. Bald wäre ich gestorben, auch dann, wenn der Holzfäller nicht gekommen wäre – vor Scham.« Seine Miene änderte sich, als habe er über seiner Verletzlichkeit einen Deckel geschlossen. »Nun kommt«, sagte er, »wir müssen euch zu essen geben. Es ist bedauerlich, daß wir euch nicht so gute Dinge vorsetzen können, wie ich es gern täte, aber wir bringen nur wenig mit in unsere«, er machte eine Bewegung nach dem Raum, während er das passende Wort suchte, »… Jagdhütte.«

Obwohl er die Westerlingsprache wesentlich geläufiger sprach, als Simon es bei ihrer ersten Begegnung für möglich gehalten hätte, zeigte seine Redeweise doch etwas Zögerndes und zugleich Übergenaues, das darauf hindeutete, wie fremdartig die Sprache ihm erscheinen mußte.

»Ihr seid … zum Jagen hier?« fragte Simon, während er sie ans Feuer führte und dort Platz nehmen ließ. »Was jagt Ihr? Die Berge kommen mir jetzt so leer vor.«

»Ah, aber das Wild, das wir suchen, ist zahlreicher denn je«, antwortete Jiriki und schritt an ihm vorbei auf eine Reihe von Gegenständen zu, die, zugedeckt mit einem schimmernden Tuch, an einer Wand der Höhle aufgestellt waren.

Der grüngekleidete, rothaarige Sitha stand vom Spieltisch auf, an dem An'nai Jirikis Platz eingenommen hatte, und sagte etwas in der Sithisprache, das fragend, vielleicht auch zornig klang.

»Ich will unseren Besuchern nur unsere Jagdbeute zeigen, Onkel Khendraja'aro«, erklärte Jiriki munter, aber wieder schien es Simon, als mangele dem Lächeln des Sitha etwas.

Jiriki kniete geschmeidig neben der Reihe der zugedeckten Formen nieder, als lande ein Seevogel. Mit einer schwungvollen Bewegung zog er das Tuch fort und enthüllte ein halbes Dutzend große, weißhaarige Köpfe, die toten Gesichter zu geiferndem Haß erstarrt.

»Bei Chukkus Eiern!« fluchte Binabik. Die anderen schnappten nach Luft.

Simon brauchte einen entsetzten Augenblick, bis er die lederhäutigen Züge erkannte.

»Riesen!« stammelte er endlich. »Hunen!«

»In der Tat«, erwiderte Prinz Jiriki und drehte sich zu ihm um. In seiner Stimme blitzte Gefahr. »Und ihr, sterbliche Eindringlinge … was jagt ihr in meines Vaters Bergen?«

XXXVIII

Uralte Lieder

Deornoth erwachte in eisiger Dunkelheit. Er schwitzte. Draußen zischte und heulte der Wind und krallte sich in die Fensterläden wie ein Schwarm der einsamen Toten. Deornoths Herz blieb fast stehen, als er eine dunkle Gestalt vor sich stehen sah, ein scharfer Umriß vor der Glut im Kamin.

»Hauptmann!« Es war einer seiner Männer, Panik in der flüsternden Stimme. »Jemand kommt auf das Tor zu! Bewaffnete!«

»Gottes Baum!« fluchte er und zwängte sich in die Stiefel. Er warf das Kettenhemd über den Kopf, packte Schwertscheide und Helm und folgte dem Soldaten nach draußen.

Vier weitere Männer kauerten, hinter die Brüstung geduckt, auf der obersten Plattform des Torhauses. Der Wind warf Deornoth fast um. Hastig ließ er sich in die Hocke fallen.

»Dort, Hauptmann!« Es war der Mann, der ihn geweckt hatte. »Sie kommen durch den Ort, die Straße hoch!« Er beugte sich an Deornoth vorbei nach vorn und deutete mit dem Finger.

Das Mondlicht, das durch die vorüberströmenden Wolken schien, versilberte das schäbige Stroh auf den dicht aneinandergedrängten Hausdächern der Stadt Naglimund. Tatsächlich gab es eine Bewegung auf der Straße, ein kleiner Trupp Berittener, vielleicht ein Dutzend stark.

Die Männer auf dem Torhaus beobachteten, wie die Reiter näher kamen. Einer der Soldaten stöhnte leise vor sich hin. Auch Deornoth empfand das Schmerzhafte dieses Wartens. Besser war es, wenn die Hörner gellten und das Schlachtfeld voller Rufe war.

Es ist das Warten, das uns alle so entmutigt, dachte Deornoth. Wenn sie erst wieder Blut geleckt haben, werden unsere Naglimunder sich wacker schlagen.

»Es müssen noch mehr sein; sie haben sich versteckt!« flüsterte ein anderer Soldat. »Was sollen wir tun?« Selbst im Schreien des Windes kam seine Stimme ihnen laut vor. Wie konnten die Reiter dort unten sie nicht hören?

»Nichts«, erklärte Deornoth fest. »Abwarten.«

Es schien Stunden zu dauern, bis die Reiter näherkamen. Der Mond leuchtete auf blitzenden Speerspitzen und glänzenden Helmen, als die schweigenden Männer vor dem schweren Tor die Pferde zügelten und dasaßen, als lauschten sie auf etwas. Einer der Torwächter stand auf, spannte den Bogen und zielte auf die Brust des Vordersten. Noch während Deornoth, der die Anspannung im Gesicht des Wächters, die Verzweiflung in seinen Augen gesehen hatte, nach ihm sprang, ertönte von unten ein lautes Hämmern. Deornoth bekam den Bogenarm zu fassen und zwang ihn nach oben; der Pfeil sauste von der Sehne und verschwand in der windigen Finsternis über der Stadt.

»Beim guten Gott, öffnet das Tor!« schrie ein Mann, und wieder donnerte ein Speerende gegen die Bohlen. Es war die Stimme eines Rimmersmannes, aber, dachte Deornoth, fast lag ein Unterton von Wahnsinn darin. »Schlaft ihr denn alle? Laßt uns ein! Ich bin Isorn, Isgrimnurs Sohn, der aus der Hand unserer Feinde entkommen ist!«

»Seht! Seht doch, die Wolken reißen auf! Haltet Ihr das nicht auch für ein hoffnungsvolles Vorzeichen, Velligis?«

Bei seinen Worten beschrieb Herzog Leobardis mit der ausgestreckten Hand einen weiten Bogen zum offenen Fenster der Kabine hinüber und hätte dabei mit dem gepanzerten Arm fast seinen schwitzenden Knappen am Kopf getroffen. Der Knappe, im Begriff, dem Herzog die Beinschienen anzupassen, duckte sich, schluckte einen wortlosen Fluch hinunter und knuffte einen jungen Pagen, der ihm nicht schnell genug ausgewichen war. Der Page, der schon die ganze Zeit versucht hatte, sich in der vollgestopften Schiffskabine so klein wie möglich zu machen, erneuerte seine verzweifelten Anstrengungen, ganz und gar unsichtbar zu werden.