»Vielleicht sind wir in gewisser Weise das dünne Ende des Keils, der diesem Wahnsinn ein Ende setzen wird.« Leobardis klirrte zum Fenster. Sein Knappe kroch auf dem Boden hinter ihm her, bemüht, eine erst halb befestigte Beinschiene an ihrem Platz zu halten. Der bedeckte Himmel zeigte tatsächlich lange, wellige Streifen Blau, als fingen sich die tiefhängenden Wolken an den dunklen, massigen Klippen von Crannhyr, die dort, wo Leobardis' Flaggschiff, die Juwel von Emettin, unmittelbar vor ihnen ankerte, hoch über die Bucht ragten und die Wolken zerrissen.
Velligis, ein großer, dicker Mann in den Goldgewändern des Escritors, stampfte zum Fenster und stellte sich neben den Herzog.
»Wie kann Öl, das man ins Feuer gießt, beim Löschen helfen, Herr? Entschuldigt meine Dreistigkeit, aber der Gedanke ist töricht.«
Das Dröhnen der Appelltrommel hallte über das Wasser. Leobardis strich sich das strähnige weiße Haar aus den Augen. »Ich kenne die Gefühle des Lektors«, erwiderte er, »und ich weiß, daß er Euch, geliebter Escritor, angewiesen hat, mich zu überreden, von diesem Kampf abzulassen. Die Friedensliebe Seiner Heiligkeit … jawohl, sie ist bewunderungswürdig; aber Worte werden uns dieses Mal keinen Frieden bringen.«
Velligis öffnete eine kleine Messingschatulle und schüttelte ein Zuckerbonbon heraus, das er sich zierlich auf die Zunge legte. »Das klingt gefährlich nach Lästerung, Herzog Leobardis. Sind Gebete ›Worte‹? Ist die Einschaltung Seiner Heiligkeit des Lektors Ranessin vielleicht weniger wert als die Stärke Eurer Truppen? Wenn das so ist, wird unser Glaube an Usires' Wort und an das Wort seines ersten Schülers Sutrines zum Spott.« Der Escritor seufzte schwer und lutschte an seinem Bonbon.
Die Wangen des Herzogs röteten sich. Er winkte den Knappen beiseite und bückte sich knarrend, um selber die letzte Schnalle zu schließen. Dann befahl er seinen Überrock aus tiefblauem Tuch mit dem in Gold auf die Brust gestickten benidrivinischen Eisvogel.
»Gottes Segen mit mir, Velligis«, knurrte er ärgerlich, »aber ich habe heute anderes im Sinn, als mit Euch zu diskutieren. Der Hochkönig Elias hat mich zum Äußersten getrieben, und nun muß ich tun, was getan werden muß.«
»Aber Ihr zieht nicht selber in die Schlacht«, beharrte der Dicke und sprach erstmals mit einiger Hitzigkeit. »Ihr führt Hunderte, nein, Tausende von Männern an – von Seelen –, und in Eurer Hand liegt ihr Wohlergehen. Die Samen einer Katastrophe treiben im Wind, und Mutter Kirche trägt Mitverantwortung dafür, daß sie nicht auf fruchtbaren Boden fallen.«
Leobardis schüttelte betrübt den Kopf. Der kleine Page hielt ihm schüchtern den goldenen Helm mit dem blaugefärbten Roßhaarbusch hin.
»Fruchtbaren Boden gibt es heutzutage überall, Velligis, und die Katastrophe fängt bereits an zu sprießen – wenn Ihr mir diese Anleihe bei Euren poetischen Worten verzeiht. Unsere Aufgabe ist es, sie noch im Keim abzumähen. Kommt!« Er klopfte dem Escritor auf den fleischigen Arm. »Es ist Zeit, ins Landungsboot zu steigen. Begleitet mich.«
»Gewiß, guter Herzog, gewiß.« Velligis machte eine leichte Wendung zur Seite, um durch die schmale Tür zu schlüpfen. »Ihr werdet mir verzeihen, wenn ich nicht sofort mit Euch an Land gehe. Seit einiger Zeit fühle ich mich ein wenig unsicher auf den Beinen. Ich fürchte, ich werde alt.«
»Nun, Eure Rhetorik hat an Kraft nichts verloren«, bemerkte Leobardis, während sie langsam über das Deck schritten. Eine schmale, dunkelgekleidete Gestalt kreuzte ihren Weg, blieb kurz stehen und nickte ihnen mit über der Brust gefalteten Händen zu. Der Escritor zog die Stirn in Falten, aber Herzog Leobardis erwiderte das Nicken lächelnd.
»Nin Reisu fährt schon viele Jahre auf der Juwel von Emettin«, erklärte er, »und sie ist die beste aller Seewächterinnen. Ich schenke ihr die Formalitäten – die Niskies sind ohnehin ein seltsames Volk, Velligis, wie Ihr wissen würdet, wenn Ihr ein Seefahrer wärt. Kommt, dort drüben liegt mein Boot.«
Der Hafenwind verwandelte Leobardis' Mantel in ein Segel, das sich blau vor dem unschlüssigen Himmel blähte.
Als er landete, sah Leobardis seinen jüngsten Sohn Varellan, der ihn erwartete. Er sah aus, als sei er noch zu klein, um seine glänzende Rüstung richtig auszufüllen. Das schmale Gesicht lugte besorgt aus der Höhlung des Helmes hervor, während er zusah, wie sich die Nabbanai-Streitkräfte sammelten; so als könne sein Vater ihn für eine vielleicht nachlässige Aufstellung der wimmelnden, fluchenden Soldaten verantwortlich machen. Eine Gruppe von Männern drängte sich so achtlos an ihm vorbei, als wäre er der Trommeljunge, und fluchte fröhlich auf ein Pferdegespann ein, das sich, scheu geworden durch die allgemeine Verwirrung, von der Gangplanke ins seichte Wasser gestürzt und seinen Betreuer mitgenommen hatte. Varellan wich vor dem spritzenden, wiehernden Chaos zurück, die Stirn in Falten gezogen, die auch dann nicht verschwanden, als er den Herzog von dem auf Grund gelaufenen Boot herunterspringen und die letzten paar Schritte den felsigen Strand der Südküste von Hernystir hinaufwaten sah.
»Herr«, sagte er zögernd. Leobardis dachte bei sich, nun überlege er wohl, ob er vom Pferd steigen und vor ihm das Knie beugen solle. Der Herzog mußte einen unwilligen Blick unterdrücken. Er machte Nessalanta das scheue Wesen des Jungen zum Vorwurf, weil sie sich an ihn geklammert hatte wie ein Säufer an seinen Krug, um nicht zugeben zu müssen, daß auch das letzte ihrer Kinder erwachsen wurde. Natürlich war er auch nicht ohne Schuld. Nie hätte er sich über das aufkeimende Interesse des Jungen für die Priesterschaft lustig machen dürfen. Aber das war nun Jahre her, und der Lebensweg des Jungen ließ sich nicht mehr ändern; er würde Soldat bleiben, auch wenn er dabei sein Leben verlor.
»Nun, Varellan«, begrüßte ihn der Herzog und warf einen Blick in die Runde. »Gut, mein Sohn – es sieht ja aus, als wäre alles in Ordnung.«
Obwohl ihm der eigene Augenschein bestätigte, daß sein Vater entweder nicht bei Verstand war oder es allzu freundlich mit ihm meinte, schenkte ihm der junge Mann ein rasches, dankbares Lächeln. »Wir werden, denke ich, in zwei Stunden alle ausgeschifft haben. Wird heute nacht noch weitermarschiert?«
»Nach einer Woche auf See? Die Männer würden uns alle beide erschlagen und sich eine neue herzogliche Familie suchen. Obwohl sie dann vermutlich auch Benigaris erledigen müßten, um wirklich die ganze Linie auszurotten. Aber da wir gerade von deinem Bruder sprechen – warum ist er nicht hier?«
Er sagte es leichthin, obgleich er die Abwesenheit seines Ältesten ärgerlich fand. Nach wochenlangem bitterem Streit darüber, ob Nabban neutral bleiben sollte, und stürmischer Reaktion auf die Entscheidung des Herzogs, Prinz Josua zu unterstützen, hatte Benigaris seine Meinung völlig geändert und den Wunsch geäußert, sich seinem Vater und den Truppen anzuschließen. Der Herzog war überzeugt, Benigaris brächte es einfach nicht fertig, auf die Gelegenheit zu verzichten, die Legionen des Eisvogels in die Schlacht zu führen, selbst wenn das den Verzicht auf die Möglichkeit bedeutete, wenigstens für eine Weile seine Beine auf dem Thron der Sancellanischen Mahistrevis auszustrecken.
Er merkte, daß seine Gedanken abschweiften. »Nein, nein, Varellan, wir müssen den Leuten eine Nacht in Crannhyr lassen, obwohl es dort wahrscheinlich wenig Vergnügungen für sie geben wird, nachdem Lluths Krieg im Norden so übel ausgegangen ist. Wo, sagtest du, steckt Benigaris?«