»Zum Teufel mit solchen Wundern«, bemerkte Isgrimnur grob und runzelte die Stirn, damit ihn sein in der Brust schwellendes Herz nicht in Verlegenheit brachte. »Mit seinem Verstand und seinem Mut hat er seine Leute dort herausgebracht, und das ist bei Gott die Wahrheit.«
»Isgrimnur…«, warnte Gutrun. Josua lachte.
»Natürlich. Dann laß mich sagen, Isorn, daß dein Mut und dein Verstand ein wahres Wunder waren.«
Isorn setzte sich im Bett höher auf und änderte die Lage seines verbundenen Beines, das auf der Decke aufgebahrt lag wie eine Heiligenreliquie. »Ihr seid zu gütig, Hoheit. Wenn nicht ein Teil von Skalis Kaldskrykern keine Neigung verspürt hätten, ihre Mitmenschen zu foltern, säßen wir immer noch dort – als hartgefrorene Leichen.«
»Isorn!« rief seine Mutter ärgerlich. »Sprich nicht von solchen Dingen. Es ist ein Schlag ins Gesicht von Gottes Gnade.«
»Aber es ist wahr, Mutter. Skalis Raben selber gaben uns die Messer, mit deren Hilfe wir fliehen konnten.« Er wandte sich zu Josua. »Finstere Dinge gehen vor in Elvritshalla – in ganz Rimmersgard, Prinz Josua! Ihr müßt mir glauben! Skali ist nicht allein gekommen. Die Stadt war voll von Schwarz-Rimmersmännern aus der Gegend um Sturmspitze. Sie waren es auch, die Skali zu unserer Bewachung zurückließ. Und es waren diese gottverfluchten Unmenschen, die unsere Männer gefoltert haben – für nichts und wieder nichts, denn wir hatten ihnen ja gar nichts zu verschweigen. Sie taten es, kaum vorstellbar, aus Vergnügen. Nachts, wenn wir schlafen gingen, hörten wir die Schreie unserer Kameraden und fragten uns, wen sie als nächsten holen würden.«
Er stöhnte leise und zog die Hand aus Gutruns festem Griff, um sich die Schläfen zu reiben, als wollte er die Erinnerung fortwischen.
»Selbst Skalis eigene Leute erfüllte es mit Abscheu. Ich glaube, sie fragen sich langsam, in was ihr Than sie da hineingezogen hat.«
»Wir glauben dir«, antwortete Josua sanft, den Blick, den er dem danebenstehenden Isgrimnur zuwarf, voller Sorge.
»Aber es waren noch andere dort – sie kamen nachts und trugen schwarze Kapuzen. Nicht einmal unsere Wächter bekamen ihre Gesichter zu sehen!« Isorns Stimme blieb ruhig, aber seine Augen weiteten sich bei der Erinnerung. »Sie bewegten sich nicht einmal wie Menschen, Ädon sei mein Zeuge! Sie stammten aus den Eiswüsten jenseits des Gebirges. Wir konnten ihre Kälte fühlen, wenn sie an unserem Gefängnis vorübergingen. Vor ihrer Nähe hatten wir mehr Angst als vor allen glühenden Eisen der Schwarz-Rimmersmänner.« Isorn ließ sich kopfschüttelnd auf sein Kissen zurücksinken. »Es tut mir leid, Vater … Prinz Josua. Ich bin sehr müde.«
Die beiden nickten und zogen sich zurück, der Herzog mit einem Blick auf seine Frau, die sich aber bereits wieder ganz ihrem Sohn zugewandt hatte.
»Er ist ein starker Mann, Isgrimnur«, sagte der Prinz, als sie den mit Pfützen bedeckten Korridor entlang gingen. Das Dach war undicht, wie so oft in Naglimund nach einem harten Winter und einem ebenso schlechten Frühling und Sommer.
»Ich wünschte nur, ich hätte verhindert, daß er allein diesem Hurensohn Skali gegenübertreten mußte. Verdammt!« Isgrimnur rutschte auf dem nassen Stein aus und verfluchte sein Alter und seine Tolpatschigkeit.
»Er hat alles getan, was man hätte tun können, Onkel. Ihr solltet stolz auf ihn sein.«
»Das bin ich auch.«
Eine Weile gingen sie weiter, bevor Josua erneut begann: »Ich muß gestehen, daß Isorns Anwesenheit es mir leichter macht, Euch um etwas zu bitten … etwas, um das ich Euch bitten muß.«
Isgrimnur zupfte an seinem Bart. »Nämlich?«
»Einen Gefallen. Um den ich nicht bitten würde, wenn nicht…« Er zögerte. »Nein. Wir wollen in meine Gemächer gehen. Es ist etwas, das man unter vier Augen besprechen sollte.« Er hakte den rechten Arm unter den Ellenbogen des Herzogs, und die Lederkappe über dem Handgelenkstumpf war wie ein stummer, für den Fall der Ablehnung vorweggenommener Vorwurf.
Isgrimnur zupfte erneut an seinem Bart, bis es weh tat. Er hatte das Gefühl, daß ihm das, was er da zu hören gekommen sollte, nicht gefallen würde. »Beim Baum, nehmen wir doch einen Weinkrug mit, Josua. Ich habe ihn dringend nötig.«
»Um Usires' Liebe willen! Bei Drors scharlachrotem Hammer! Bei Sankt Eahlstans und Sankt Skendis Knochen! Seid Ihr von Sinnen? Warum sollte ich von Naglimund weggehen?«
Isgrimnur zitterte vor Schreck und Wut.
»Ich würde Euch nicht bitten, wenn es nur irgendeinen anderen Weg gäbe, Onkel.« Der Prinz sprach geduldig, aber selbst durch den Nebel seines Zornes konnte der Herzog Josuas Qual erkennen. »Zwei Nächte habe ich schlaflos im Bett gelegen und versucht, eine andere Lösung zu finden. Es gibt keine. Jemand muß die Prinzessin Miriamel suchen.«
Isgrimnur nahm einen tiefen Zug von dem Wein, merkte, daß ihm etwas davon in den Bart rann, achtete jedoch nicht darauf. »Warum?« fragte er endlich und knallte den Krug auf den Tisch, daß es krachte. »Und warum gottverdammtnochmal ich? WARUM ICH?«
Der Prinz war ganz erschöpfte Geduld. »Sie muß gefunden werden, weil ihre Person von entscheidender Wichtigkeit ist … und weil sie meine einzige Verwandte ist. Was wird, wenn ich sterbe, Isgrimnur? Was ist, wenn wir Elias abwehren und die Belagerung brechen, mich aber ein Pfeil trifft oder ich von der Burgmauer stürze? Wem wird das Volk folgen – nicht nur die Barone und die Kriegsführer, sondern das einfache Volk, das sich in den Schutz meiner Mauern geflüchtet hat? Es wird schwer genug für euch alle sein, mit mir als Anführer gegen Elias zu kämpfen, weil man mich für wunderlich und wankelmütig hält – aber was wird erst, wenn ich tot bin?«
Isgrimnur starrte zu Boden. »Da ist noch Lluth. Oder Leobardis.« Josua schüttelte hart den Kopf. »König Lluth ist verwundet und wird vielleicht sterben. Leobardis ist Herzog von Nabban – und es gibt noch genügend Leute, die sich daran erinnern, wie Nabban mit Erkynland im Krieg gelegen hat. Die Sancellanische Mahistrevis selbst ist das Denkmal einer Zeit, in der Nabban über alles andere herrschte. Sogar Ihr, Onkel, der Ihr ein guter und allseits geachteter Mann seid, könntet keine Streitmacht zusammenhalten, die Elias Widerstand zu leisten imstande wäre. Er ist ein Sohn von Johan Presbyter! Johan selbst hat ihn auf den Drachenbeinthron gesetzt. Trotz aller seiner Missetaten muß es ein Mitglied derselben Familie sein, das ihm diesen Thron wieder nimmt … und das wißt Ihr auch!«
Isgrimnurs langes Schweigen war Antwort genug.
»Aber warum ausgerechnet ich?« fragte er dann.
»Weil Miriamel keinem anderen Boten folgen würde. Deornoth? Er ist tapfer und treu wie ein Jagdfalke, aber er müßte die Prinzessin in einem Sack nach Naglimund schleppen. Außer mir seid Ihr der einzige, der sie zurückbringen kann, ohne daß sie sich dagegen wehrt. Und freiwillig zurückkommen muß sie, denn es wäre verhängnisvoll, wenn man Euch entdeckte. Schon bald kann Elias erfahren, daß sie nicht mehr hier ist. Dann wird er den ganzen Süden in Brand setzen, um sie aufzuspüren.«
Josua ging zu seinem Schreibtisch hinüber und blätterte gedankenverloren in einem Pergamentstapel. »Denkt sorgfältig nach, Isgrimnur. Vergeßt einen Augenblick, daß wir von Euch selber sprechen. Wer sonst ist so weit herumgekommen und hat Freunde an den merkwürdigsten Orten? Wer sonst, wenn Ihr mir verzeihen wollt, kennt das falsche Ende von so vielen dunklen Hintergassen in Ansis Pelippé und Nabban?«
Wider Willen mußte Isgrimnur mürrisch grinsen. »Aber trotzdem scheint es mir sinnlos, Josua. Wie kann ich meine Männer im Stich lassen, jetzt, wo Elias gegen uns marschiert? Und wie könnte ich hoffen, daß ein solcher Auftrag geheim bleibt, bekannt wie ich bin?«
»Was das erste betrifft: Gerade darum dünkt es mich ja ein Wink des Schicksals, daß Isorn jetzt hier ist. Einskaldir, da sind wir uns wohl einig, verfügt nicht über die Selbstbeherrschung eines Anführers. Bei Isorn ist das anders. Außerdem, Onkel, verdient er die Chance, sich jetzt auszuzeichnen. Der Fall von Elvritshalla hat seinem jugendlichen Stolz einen schweren Schlag versetzt.«