»Gerade der Stolz, der einen Schlag erlitten hat, macht einen Knaben zum Mann«, knurrte der Herzog. »Fahrt fort.«
»Und zum zweiten: Jawohl, Ihr seid ein bekannter Mann, aber Ihr seid seit zwanzig Jahren kaum noch südlich über Erkynland hinausgekommen. Und außerdem werden wir Euch verkleiden.«
»Verkleiden?« Isgrimnur betastete zerstreut die Flechten seines Bartes. Josua ging zur Tür und rief etwas. Dem Herzog war es seltsam schwer ums Herz. Er hatte sich vor diesem Kampf gefürchtet, weniger seinet- als seines Volkes, seiner Gutrun wegen, und nun war auch noch sein Sohn gekommen und legte ihm eine weitere Sorge auf. Jetzt fortzugehen, und sei es auch, um sich in eine Gefahr zu begeben, die ebenso groß war wie die, die er hinter sich zurückließ … das sah unerträglich nach Feigheit aus, nach Verrat. Aber ich habe Josuas Vater einen Eid geschworen – meinem lieben alten Johan – wie kann ich seinem Sohn eine Bitte abschlagen? Und seine Gründe sind so gottverdammt einleuchtend…
»Hier«, sagte der Prinz und trat von der Tür zurück, um jemanden einzulassen. Es war Vater Strangyeard, auf dem rosigen Gesicht mit der Augenklappe ein schüchternes Lächeln, die lange Gestalt gebeugt unter der Last eines Bündels aus schwarzem Stoff.
»Hoffentlich paßt es«, meinte der Archivar. »Meistens passen sie nicht; ich weiß nicht, warum; es ist nur eine weitere kleine Ermahnung, eine von den kleinen Lehren des Meisters.« Er verstummte, schien aber nach einer Weile den Faden wiederzufinden. »Es war ungemein freundlich von Eglaf, es uns zu leihen. Er hat so etwa Eure Gestalt, glaube ich, wenn auch nicht ganz so hochgewachsen.«
»Eglaf?« fragte Isgrimnur ratlos. »Wer ist Eglaf? Josua, was soll dieser Unfug?«
»Bruder Eglaf, natürlich«, erläuterte Strangyeard.
»Eure Verkleidung, Isgrimnur«, führte der Prinz weiter aus, während der Burgarchivar das Bündel entfaltete. Es entpuppte sich als Auswahl schwarzwollener Priestergewänder. »Ihr seid ein frommer Mann, Onkel. Ich bin überzeugt, Ihr könnt die Rolle spielen.« Der Herzog hätte schwören können, daß Josua sich ein Lächeln verbiß.
»Was? Priesterkleidung?« Isgrimnur erkannte allmählich die Umrisse des Planes und war keineswegs zufrieden damit.
»Wie könntet Ihr besser unbemerkt nach Nabban reisen, wo Mutter Kirche als Königin herrscht und es fast mehr Priester aller Richtungen gibt als andere Bürger?« Jetzt lächelte Josua tatsächlich.
Isgrimnur war außer sich vor Wut. »Josua! Ich habe schon früher um Euren Verstand gefürchtet; jetzt aber weiß ich, daß Ihr ihn vollständig verloren habt. Das ist der hirnverbrannteste Einfall, den ich je gehört habe. Und wer, zu allem Überfluß, hat je von einem Ädoniterpriester mit Bart gehört?« Er schnaubte verächtlich.
Der Prinz, mit einem warnenden Blick auf Vater Strangyeard, der die Gewänder auf einen Stuhl legte und sich rückwärts auf die Tür zubewegte, trat an einen Tisch und hob ein Tuch. Darunter zeigte sich … eine Schüssel mit heißem Wasser und ein blinkendes, frischgewetztes Rasiermesser.
Isgrimnurs gewaltiges Aufbrüllen ließ unten in der Burgküche das Geschirr aneinanderschlagen.
»Sprecht, Sterbliche. Kommt ihr als Spione in unsere Berge?«
Eisiges Schweigen folgte Prinz Jirikis Worten. Aus dem Augenwinkel beobachtete Simon, wie Grimmric hinter sich griff und die Wand nach etwas abtastete, das er als Waffe benutzen könnte. Sludig und Haestan warfen den Sithi, die sie umringt hielten, grimmige Blicke zu, fest überzeugt, daß man jetzt gleich über sie herfallen würde.
»Nein, Prinz Jiriki«, antwortete Binabik rasch. »Gewiß seht Ihr selbst, daß wir keine Erwartung hatten, hier auf Euer Volk zu stoßen. Wir kommen aus Naglimund, ausgesandt von Prinz Josua, mit einem Auftrag von höchster Wichtigkeit. Wir suchen…«
Der Troll zögerte, als fürchte er, zuviel zu sagen. Dann jedoch fuhr er achselzuckend fort: »Wir sind unterwegs zum Drachenberg, um dort nach Camaris-sá-Vinittas Schwert Dorn zu suchen.«
Jirikis Augen wurden schmal, und der Grüngekleidete hinter ihm, den er Onkel genannt hatte, stieß mit dünnem Pfeifen den Atem aus.
»Was wollt ihr mit einem solchen Ding anfangen?« fragte Khendraja'aro.
Darauf wollte Binabik nicht antworten. Er blickte unglücklich auf den Boden der Höhle. Die Luft schien zu stehen, als die Sekunden vergingen.
»Es soll uns vor Ineluki retten – vor dem Sturmkönig!« platzte Simon heraus. Bis auf ein Blinzeln verzog keiner der Sithi eine Miene. Niemand sagte ein Wort.
»Sprecht weiter«, verlangte Jiriki endlich.
»Wenn Ihr es wünscht«, erwiderte Binabik. »Es ist Teil einer Geschichte, die fast so lang ist wie Euer Ua'kiza Tumet' ai nei-R'ïanis – das Lied vom Untergang Tumet'ais. Wir wollen versuchen, Euch mitzuteilen, was wir wissen.«
Der Troll erklärte eilig die wichtigsten Tatsachen. Simon kam es vor, als lasse er absichtlich vieles aus; einige Male sah Binabik beim Sprechen auf und begegnete seinem Blick, als mahne er den Jungen zu schweigen.
Binabik berichtete den schweigenden Sithi von den Verteidigungsvorbereitungen in Naglimund und den Verbrechen des Hochkönigs. Er erläuterte, was Jarnauga erzählt hatte, sprach von Nisses' Buch und sagte die Verse her, die sie veranlaßt hatten, sich auf die Reise zum Urmsheim zu machen.
Als er seine Geschichte beendet hatte, sah sich der Troll Jirikis ausdruckslos starrem Blick, der noch mehr Zweifel verratenden Miene seines Onkels und einer so tiefen Stille gegenüber, daß das tönende Echo des Wasserfalles anzuschwellen schien, bis es diese kleine Welt mit seinem Klang erfüllte. Was für ein Ort voller Wahnsinn und Träume diese Höhle doch war, und in was für eine aberwitzige Geschichte sie hineingeraten waren! Simon merkte, daß sein Herz wie rasend schlug, und zwar nicht allein aus Furcht.
»Das ist schwer zu glauben, Sohn meiner Schwester«, bemerkte Khendraja'aro endlich und spreizte mit einer sonderbaren Geste die beringten Hände.
»Allerdings, Onkel. Aber ich glaube, daß jetzt nicht der Augenblick ist, darüber zu sprechen.«
»Aber dieser andere, den der Knabe erwähnt hat…«, begann Khendraja'aro von neuem, Sorge in den gelben Augen, aufkeimenden Zorn in der Stimme. »Der Schwarze unter Nakkiga…«
»Nicht jetzt.« Die Antwort des Sithiprinzen war nicht ohne Schärfe. Er wandte sich an die fünf Fremdlinge. »Wir müssen uns entschuldigen. Es ist jedoch nicht gut, über solche Dinge zu reden, solange ihr nicht gegessen habt. Ihr seid unsere Gäste.« Simon, den bei diesen Worten eine Woge der Erleichterung überschwemmte, schwankte leicht vor sich hin. Seine Knie wurden plötzlich schwach.
Jiriki, der es bemerkte, winkte sie näher ans Feuer. »Setzt euch. Ihr müßt unser Mißtrauen verzeihen. Seoman, verstehe auch du mich: Obwohl ich dir mein Blut schulde – du bist mein Hikka Staj'a –, haben eure Rassen der unseren wenig Freundlichkeit bezeigt.«
»Ich muß Euch zum Teil widersprechen, Prinz Jiriki«, entgegnete Binabik und ließ sich auf einem flachen Stein am Feuer nieder. »Von allen Sithi sollte Eure Familie am besten wissen, daß wir Qanuc Euch niemals etwas Übles zugefügt haben.«
Jiriki sah zu dem Kleinen hinunter, und seine angespannten Züge lockerten sich zu einem Ausdruck, in dem fast etwas Liebevolles stand. »Du hast mich bei einer Unhöflichkeit ertappt, Binbiniqegabenik. Nach den Menschen des Westens, die uns am vertrautesten waren, haben wir einst die Qanuc sehr gern gehabt.«
Binabik hob den Kopf, und sein rundes Gesicht war voller Verwunderung. »Woher kennt Ihr meinen vollen Namen? Ich habe ihn nicht erwähnt, noch haben meine Gefährten ihn verkündet.«
Jiriki lachte, ein zischendes Geräusch, aber seltsam vergnügt, ohne jeden Anflug von Unaufrichtigkeit. In dieser Sekunde empfand Simon eine jähe, heftige Zuneigung zu ihm. »Ach, Troll«, sagte der Prinz, »jemand, der so weitgereist ist wie du, sollte sich nicht wundern, wenn man seinen Namen kennt. Wie viele Qanuc außer deinem Meister und dir trifft man denn südlich der Berge?«