Als sie näherkamen, flötete Jiriki seinem Onkel etwas zu, erhielt jedoch von Khendraja'aro keine Antwort. Das alterslose Gesicht schien unzugänglich wie eine verriegelte Tür. Simon folgte dem Prinzen an ihm vorbei und die Höhlenwand entlang. Gleich darauf verschwand Jiriki vor seinem erstaunten Blick. Der Sitha war jedoch nur in einen anderen Tunnel getreten, der sich um den steinernen Zufluß des kleinen Wasserfalles wand. Simon ging ihm nach. Der Tunnel führte auf rauhen Steinstufen in die Höhe. Eine Lampenreihe erhellte ihn.
»Bitte folge mir«, sage der Sitha und begann hinaufzusteigen.
Simon kam es vor, als kletterten sie hoch in das Innere des Berges, lange Zeit und immer wieder im Kreis herum. Endlich ließen sie die letzte Lampe hinter sich und setzten ihren Weg in fast völliger Dunkelheit vorsichtig fort, bis Simon vor sich Sterne schimmern sah. Gleich darauf erweiterte sich der Gang zu einer kleinen Kammer, deren eine Seite dem Nachthimmel offenstand.
Simon folgte Jiriki ans Ende der Höhle, wo sich eine gürtelhohe Steinbrüstung erhob. Unter ihnen fiel die felsige Bergwand steil ab: zehn kahle Ellen bis zu den Spitzen der hohen Immergrünbäume, fünfzig weitere bis zum verschneiten Boden. Die Nacht war klar, die Sterne leuchteten grimmig in der Finsternis, und von allen Seiten umgab sie der Wald wie ein ungeheures Geheimnis.
Nachdem sie eine Weile still verharrt hatten, sagte Jiriki: »Ich schulde dir ein Leben, Menschenkind. Fürchte nicht, daß ich es vergessen werde.«
Simon antwortete nicht, aus Angst, den Zauber zu brechen, der es ihm erlaubte, hier mitten in der Nacht des Waldes zu stehen, ein Spion in Gottes dunklem Garten. Eine Eule rief.
Wieder verging eine schweigende Zeit, dann berührte der Sitha Simon leicht am Arm und deutete über das stumme Meer der Bäume hinweg.
»Dort, im Norden, unter Lu'yasas Stab…« Er wies auf eine Reihe von drei Sternen am tiefsten Rand des samtenen Himmels. »Kannst du den Umriß der Berge erkennen?«
Simon starrte. Er glaubte ein mattes Leuchten am unbestimmten Horizont wahrzunehmen, die ganz schwache Andeutung eines großen, weißen Gebildes, so weit entfernt, daß das Mondlicht, das unter ihnen auf Bäume und Schnee fiel, es gar nicht mehr zu erreichen schien. »Ich glaube, ja«, erwiderte er leise.
»Das ist euer Ziel. Der Gipfel, den die Menschen Urmsheim nennen, ist ein Teil dieser Bergkette, obwohl die Nacht klarer sein müßte, damit du ihn genauer sehen kannst.« Er seufzte. »Dein Freund Binabik sprach heute vom verlorenen Tumet'ai. Einst konnte man es von hier aus sehen, dort drüben im Osten«, er deutete ins Dunkle, »hier von diesem Aussichtspunkt aus; doch das war zu einer Zeit, als mein Ur-Urgroßvater noch am Leben war. Bei Tageslicht fing sich die aufgehende Sonne in den Kristall- und Golddächern des Sení Anzi'in, des Turmes der Wandelnden Morgendämmerung. Es heißt, er soll ausgesehen haben wie eine wunderbare Fackel, die am Morgenhorizont loderte…«
Er brach ab und richtete die Augen auf Simon; Nachtschatten verdunkelten das übrige Gesicht.
»Tumet'ai ist lange begraben«, fuhr Jiriki achselzuckend fort. »Nichts ist von Dauer, nicht einmal die Sithi … nicht einmal die Zeit selbst.«
»Wie … wie alt seid Ihr?«
Der Sithi-Prinz lächelte mit im Mondschein blitzenden Zähnen. »Älter als du, Seoman. Wir wollen nun wieder hinuntersteigen. Vieles hast du heute gesehen und überlebt, und sicher mußt du jetzt schlafen.«
Als sie in die vom Feuerschein erhellte Höhle zurückkamen, schnarchten die drei Soldaten bereits kräftig vor sich hin. Binabik war wieder da und lauschte ein paar Sithi, die ein langsames, trauriges Lied sangen, das wie ein Bienenstock summte, wie ein Fluß rauschte und die Höhle zu erfüllen schien wie der starke Duft einer seltenen, sterbenden Blume.
In seinen Mantel gehüllt, sah Simon dem Licht der Flammen zu, das auf den Steinen der Decke tanzte, bis ihn die seltsame Musik von Jirikis Stamm in den Schlaf wiegte.
XXXIX
Die Hand des Hochkönigs
Simon erwachte und merkte, daß das Licht in der Höhle sich verändert hatte. Das Feuer brannte noch, dünne gelbe Flammen in weißer Asche, aber die Lampen waren erloschen. Durch Ritzen in der Decke, die nachts nicht zu sehen gewesen waren, sickerte Tageslicht und verwandelte die steinerne Kammer in eine Säulenhalle voller Licht und Schatten.
Seine drei Soldatenkameraden schliefen noch, schnarchend in ihre Mäntel verstrickt, alle Glieder von sich gestreckt wie in der Schlacht Gefallene. Sonst war die Höhle leer bis auf Binabik, der mit untergeschlagenen Beinen am Feuer saß und gedankenverloren auf seiner Wanderstabflöte blies.
Simon richtete sich benommen auf. »Wo sind die Sithi?«
Binabik flötete ein paar weitere Noten, ohne sich umzudrehen.
»Gegrüßt, guter Freund«, meinte er nach einer Weile. »War dein Schlaf zufriedenstellend?«
»Vermutlich«, grunzte Simon und ließ sich wieder fallen, um die Staubkörnchen zu betrachten, die unter dem Höhlendach schimmerten. »Wo sind die Sithi hingegangen?«
»Auf die Jagd, könnte man wohl sagen. Komm, steh auf! Ich benötige deine Hilfe.«
Simon stöhnte, erhob sich jedoch mühsam in eine sitzende Stellung.
»Auf die Jagd nach Riesen?« fragte er wenig später, den Mund voller Obst. Haestans Schnarchen war so laut geworden, daß Binabik empört die Flöte weggelegt hatte.
»Auf der Jagd nach allem, was ihre Grenzen bedroht, nehme ich an.« Der Troll starrte auf etwas, das vor ihm auf dem Steinboden der Höhle lag. »Kikkasut! Das ergibt keinen vernünftigen Sinn. Gefallen will es mir kein bißchen.«
»Was ergibt keinen Sinn?« Simon ließ den Blick träge durch die Felsenkammer schweifen. »Ist das ein Sithi-Haus?«
Binabik musterte ihn stirnrunzelnd. »Wahrscheinlich ist es gut, daß du deine Fähigkeit zurückgewonnen hast, viele Fragen auf einmal zu stellen. Nein, dieses ist kein Sithi-Haus, soweit es so etwas überhaupt gibt. Es ist, denke ich, das, was Jiriki gesagt hat – eine Jagdhütte, ein Ort, an dem ihre Jäger sich während ihrer Streifzüge aufhalten können. Und was deine erste Frage angeht: Es sind die Knochen, die keinen Sinn machen – oder vielmehr zuviel Sinn.«
Die Wurfknöchel lagen als Häufchen vor Binabiks Knien. Simon betrachtete sie. »Was bedeuten sie?«
»Ich werde es dir sagen. Vielleicht wäre es gut, wenn du diese Zeit nutztest, um dir den Schmutz, das Blut und den Beerensaft vom Gesicht zu waschen.« Der Troll schenkte ihm ein mürrisches gelbes Grinsen und deutete auf den Teich in der Ecke. »Dort kannst du dich reinigen.«
Er wartete, bis Simon einmal den Kopf in das beißend kalte Wasser gesteckt hatte.
»Brrr!« sagte der Junge bibbernd. »Eisig!«
»Du hast vielleicht gesehen«, erläuterte Binabik, ungerührt von Simons Jammern, »daß ich heute morgen die Knöchel geworfen habe. Was sie sagen, ist dieses: Pfad im Schatten, Offener Wurfspieß und Schwarze Spalte. Viel Verwirrung und Sorge macht mir das.«
»Warum?« Simon spritzte sich noch etwas Wasser ins Gesicht und rieb es mit dem Wamsärmel, der auch nicht mehr der sauberste war, wieder trocken.
»Weil ich die Knochen geworfen habe, bevor wir Naglimund verließen«, erklärte Binabik gereizt, »und dabei genau die gleichen Bilder bekam! Genau die gleichen!«
»Aber wieso ist das schlecht?« Etwas Helles, das auf dem Rand des Teiches lag, fiel Simon ins Auge. Er hob es vorsichtig auf und sah, daß es ein runder Spiegel war, gefaßt in einen wundervoll geschnitzten Holzrahmen. In den Rand des dunklen Glases waren fremdartige Schriftzeichen geätzt.
»Schlecht ist es oft, wenn Dinge immer gleich sind«, antwortete Binabik, »aber bei den Knochen ist es mehr als das. Die Knochen sind Führer zur Weisheit für mich.«
»Mmm-hmm.« Simon rieb den Spiegel an seinem Hemd blank. »Nun, was wäre, wenn du euer Buch Ädon aufschlagen und entdecken würdest, daß auf allen Seiten nur noch ein Vers steht – derselbe Vers, immer und immer wieder?«