»Hoheit?« fragte er, und es fiel ihm schwer, Josua in die Augen zu sehen. Der starre Blick des Prinzen, dachte der Soldat, glich dem eines verletzten Fuchses, den er einmal gesehen hatte, als ihn die Hunde packten und bei lebendigem Leibe zerrissen.
»Schick mir Deornoth«, sagte der Prinz und zwang sich zu einem Lächeln, das dem jungen Soldaten noch grausiger vorkam als alles andere. »Und den alten Jarnauga – den Rimmersmann. Kennst du ihn?«
»Ich glaube schon, Hoheit. Sitzt mit dem einäugigen Vater im Zimmer mit den Büchern.«
»Guter Mann.« Josua hob das Gesicht zum Himmel und betrachtete die tintenschwarzen Wolkenmassen wie ein prophetisches Buch. Der Spießkämpfer zögerte, unsicher, ob er entlassen war, drehte sich dann um und wollte sich unauffällig entfernen.
»Du«, sagte der Prinz und ließ ihn mitten im Schritt erstarren.
»Hoheit?«
»Wie ist dein Name?« Es war, als fragte er den Himmel.
»Ostrael, Hoheit … Ostrael Firsframs-Sohn, Herr … aus Runchester.«
Der Prinz warf ihm einen kurzen Blick zu, ließ dann aber seine Augen wie unwiderstehlich angezogen wieder zu dem sich verfinsternden Horizont hinüberschweifen. »Wann warst du zum letztenmal zu Hause in Runchester, mein guter Mann?«
»Vorletzte Elysiamansa, Prinz Josua, aber ich schick ihnen immer die Hälfte vom Sold.«
Der Prinz zog den hohen Kragen am Hals enger und nickte, als hätte er eine tiefe Weisheit vernommen. »Nun gut denn … Ostrael Firsframs-Sohn. Schick mir Deornoth und Jarnauga. Geh jetzt.«
Lange vor diesem Tag hatte man dem jungen Spießkämpfer erzählt, der Prinz sei halbverrückt. Als er jetzt mit den schweren Stiefeln die Torhaustreppe hinunterpolterte, dachte er an Josuas Gesicht und erinnerte sich mit Schaudern an die leuchtenden, verzückten Augen gemalter Märtyrer im Buch Ädon seiner Familie – und zwar nicht allein an die singenden Märtyrer, sondern auch an die müde Trauer des Herrn Usires selber, als man ihn in Ketten zum Hinrichtungsbaum führte.
»Und die Kundschafter sind sich ihrer Sache sicher, Hoheit?« erkundigte Deornoth sich vorsichtig. Er wollte niemandem unrecht tun, aber er fühlte heute eine Wildheit in dem Prinzen, die er nicht verstand.
»Gottes Baum, Deornoth, natürlich sind sie das! Du kennst sie – alle beide zuverlässige Männer. Der Hochkönig steht an der Grünwate-Furt, keine zehn Meilen von hier. Morgen früh wird er vor unseren Mauern sein. Mit einer beachtlichen Streitmacht.«
»Also ist Leobardis zu langsam.« Deornoth kniff die Augen zusammen, spähte aber nicht südwärts, von wo Elias' Heer unaufhaltsam näherkam, sondern nach Westen, wo sich irgendwo hinter dem Spätmorgennebel die Eisvogel-Legionen mühsam über den Inniscrich und die südliche Frostmark vorarbeiteten.
»Wenn nicht ein Wunder geschieht«, sagte der Prinz. »Ans Werk, Deornoth. Sag Herrn Eadgram, er möge alles vorbereiten. Ich wünsche alle Speere scharf, alle Bogen straff gespannt und keinen Tropfen Wein im Torhaus … oder in den Torhütern. Verstanden?«
»Jawohl, Hoheit.« Deornoth nickte. Erfühlte, wie sein Atem schneller ging und ihm vor lauter Aufregung flau im Magen wurde. Beim Barmherzigen Gott, sie würden dem Hochkönig zeigen, was die Ehre von Naglimund bedeutete, verdammt, das würden sie.
Jemand räusperte sich warnend. Es war Jarnauga, der die Stufen zum breiten Wehrgang so mühelos hinaufstieg wie ein nur halb so alter Mann. Er trug eine von Strangyeards losen, schwarzen Kutten und hatte das Ende seines langen Bartes unter den Gürtel gesteckt.
»Ihr habt mich rufen lassen, Prinz Josua«, grüßte er mit steifer Höflichkeit.
»Ich danke Euch, daß Ihr gekommen seid, Jarnauga«, erwiderte Josua. »Geh nun, Deornoth! Wir sprechen beim Abendessen weiter.«
»Jawohl, Hoheit.« Deornoth, den Helm in der Hand, verbeugte sich und rannte dann, zwei Stufen auf einmal, die Treppe hinunter.
Josua ließ eine kleine Weile verstreichen, bevor er etwas sagte.
»Sieh dort, Alter, dort drüben«, begann er endlich und streckte den Arm über das Gewirr der Stadt Naglimund und die dahinterliegenden Wiesen und Äcker aus, deren Grün und Gelb der düstere Himmel schwarz übermalte. »Die Ratten kommen, um an unseren Mauern zu nagen. Wir werden diese Aussicht lange Zeit nicht mehr ungestört genießen – vielleicht nie mehr.«
»Die ganze Burg spricht von Elias' Ankunft, Josua.«
»Mit Recht.« Als hätte er den Anblick bis zur Neige gekostet, kehrte der Prinz der Brüstung den Rücken und heftete den eindringlichen Blick auf den helläugigen Alten. »Hast du Isgrimnur verabschiedet?«
»Ja. Es hat ihm nicht gefallen, daß er in aller Heimlichkeit abreisen mußte, und das vor Anbruch der Dämmerung.«
»Was hätten wir sonst tun sollen? Nachdem wir die Geschichte von seinem Auftrag in Perdruin verbreitet hatten, wäre es schwer erklärlich gewesen, wenn ihn jemand in Priestergewändern hätte aufbrechen sehen, noch dazu so bartlos wie einst als Knabe in Elvritshalla.« Der Prinz rang sich ein verbissenes Lächeln ab. »Gott weiß es, Jarnauga, obwohl ich mich selbst über seine Verkleidung lustig gemacht habe, ist es ein Messer in meinen Eingeweiden, daß ich diesen guten Mann aus den Armen seiner Familie gerissen und ihn fortgeschickt habe, damit er versucht, meine eigenen Fehler wieder gutzumachen.«
»Ihr seid der Gebieter, Josua. Das kann bedeuten, daß der Herr in manchen Dingen weniger frei ist als sein geringster Sklave.«
Der Prinz steckte den rechten Arm unter seinen Mantel. »Hat er Kvalnir mitgenommen?«
Jarnauga grinste. »Er trägt die Scheide unter seinem Übergewand. Möge Euer Gott dem gnädig sein, der diesen dicken, alten Mönch auszurauben gedenkt.«
Das müde Lächeln des Prinzen wurde sekundenlang breiter. »Nicht einmal unser Gott persönlich könnte ihm helfen, so wie Isgrimnur zur Zeit gelaunt ist.« Schon verschwand das Lächeln wieder. »Mach einen Gang über die Zinnen mit mir, Jarnauga. Ich brauche deine scharfen Augen und die Weisheit deiner Worte.«
»Es ist wahr, daß ich weiter sehen kann als die meisten anderen Menschen, Josua – mein Vater und meine Mutter brachten es mir bei. Darum trage ich auch meinen Namen, der in unserer Rimmerspakk ›Eisenaugen‹ bedeutet, denn ich habe gelernt, durch trügerische Schleier hindurchzusehen, wie schwarzes Eisen Zauber durchbohrt. Was jedoch das übrige angeht, so kann ich Euch zu dieser späten Stunde keine Weisheit versprechen, die dieses Namens würdig ist.«
Der Prinz machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich habe den Verdacht, daß du uns schon sehr viel geholfen hast – nämlich dabei, vieles zu sehen, das uns sonst entgangen wäre. Erzähl mir von diesem Bund der Schriftrolle. Hat er dich nach Tungoldyr geschickt, um die Sturmspitze auszuspähen?«
Der alte Mann schritt neben Josua her, und seine Ärmel flatterten im Wind wie schwarze Banner. »Nein, Prinz, das ist nicht die Art des Bundes. Auch mein Vater war ein Träger der Schriftrolle.« Aus dem Halsausschnitt seiner Kleidung zog Jarnauga eine goldene Kette und zeigte Josua eine feingeschnittene Feder und Schriftrolle, die daran hingen. »Er erzog mich dazu, seine Stelle einzunehmen, und ich hätte mehr als das für ihn getan. Der Bund zwingt niemanden; er bittet die Menschen nur, das zu tun, was sie können.«
Josua ging schweigend und grübelnd weiter. »Wenn man doch auch ein Land so regieren könnte«, meinte er dann. »Wenn doch die Menschen täten, was sie sollten.« Er richtete den nachdenklichen Blick der grauen Augen auf den alten Rimmersmann. »Aber es ist nicht immer so einfach – Recht und Unrecht lassen sich nur selten so deutlich unterscheiden. Gewiß hat doch euer Bund auch einen Hohepriester oder Fürsten? War es Morgenes?«
Jarnaugas Lippen zuckten. »Es gibt in der Tat Zeiten, in denen es von Vorteil für uns wäre, einen Anführer, eine starke Hand, zu besitzen. Unser beklagenswerter Mangel an Vorbereitung auf die jetzigen Ereignisse beweist das.« Er schüttelte den Kopf. »Wir hätten Doktor Morgenes sicher ohne zu zögern diese Stellung eingeräumt, wenn er es gewünscht hätte. Er war ein Mann von unfaßbar tiefer Weisheit, Josua; ich hoffe nur, daß Ihr ihm zu seinen Lebzeiten mit größter Achtung begegnet seid. Aber er wollte davon nichts wissen. Ihm lag nur daran, zu forschen, zu lesen und Fragen zu stellen. Und dennoch danke ich allen höheren Mächten, wer sie auch sein mögen, daß wir ihn überhaupt so lange hatten. Seine Voraussicht ist jetzt unser einziger Schild.«