Josua blieb stehen und stützte die Ellenbogen auf die Brüstung. »Also hat euer Bund niemals einen Führer gehabt?«
»Nicht, seitdem König Eahlstan Fiskerne – Euer Sankt Eahlstan – ihn damals ins Leben rief…« Er brach ab und erinnerte sich. »Einmal hätte es fast jemanden gegeben, sogar zu meiner Zeit. Es war ein junger Hernystiri, auch eine von Morgenes' Entdeckungen. Er war fast so begabt wie der Doktor, jedoch weniger vorsichtig, so daß er Dinge studierte, die Morgenes nicht anfassen wollte. Er war ehrgeizig und meinte, wir sollten uns mehr zu einer Kraft des Guten aufbauen. Er hätte der Anführer werden können, den Ihr meint, Josua. Ein Mann von großer Weisheit und Kraft…«
Als der Alte nicht weitersprach, sah Josua ihn an. Jarnaugas Blick verlor sich am westlichen Horizont. »Was wurde aus ihm?« fragte der Prinz. »Ist er tot?«
»Nein«, antwortete Jarnauga langsam, und noch immer schweiften seine Augen über die wellige Ebene. »Nein, das glaube ich nicht. Er … er veränderte sich. Irgend etwas erschreckte oder verletzte ihn … oder sonst etwas. Er verließ uns; es ist schon lange her.«
»So habt auch ihr Mißerfolge«, sagte Josua und wollte weitergehen. Der alte Mann folgte ihm nicht.
»O ja«, antwortete er, hob die Hand, wie um die Augen zu beschatten und starrte in die unbestimmte Ferne hinaus. »Auch Pryrates war einst einer von uns.«
Bevor der Prinz etwas erwidern konnte, gab es eine Unterbrechung.
»Josua!« rief jemand unten im Hof. Die Falten um den Mund des Prinzen wurden tiefer.
»Die Herrin Vara«, erklärte er und drehte sich um, nach ihr hinunterzublicken. Empört stand sie da, in einem Kleid aus leuchtendem Rot, und der Wind wirbelte ihr Haar auf wie schwarzen Rauch. Neben ihr wartete unbehaglich Strupp.
»Was wollt Ihr von mir?« fragte der Prinz. »Ihr solltet im Bergfried sitzen. Ich befehle Euch, in den Turm zu gehen.«
»Ich war schon dort«, rief sie erbost hinauf. Sie hob ihren Kleidersaum und stöckelte auf die Treppe zu. Im Gehen redete sie weiter. »Und ich gehe auch bald dorthin zurück, habt keine Furcht. Aber zuerst muß ich noch einmal die Sonne sehen – oder wollt Ihr mich lieber in eine finstere Zelle sperren?«
Trotz seines Ärgers hatte Josua Mühe, sein strenges Gesicht zu wahren. »Der Himmel weiß, daß der Bergfried voller Fenster ist, Herrin.«
Stirnrunzelnd musterte er Strupp. »Kannst du sie nicht wenigstens von der Mauer fernhalten? Die Belagerung wird bald beginnen.«
Der kleine Mann zuckte die Achseln und hinkte hinter Vara die Stufen hinauf.
»Zeigt mir die Streitmacht Eures furchtbaren Bruders«, sagte sie, ein wenig außer Atem, sobald sie ihn erreicht hatte.
»Wenn sein Heer hier stünde, stündet Ihr nicht hier«, versetzte Josua gereizt. »Es ist nichts zu sehen, noch nicht. Geht jetzt bitte wieder nach unten!«
»Josua?« Jarnauga spähte noch immer nach dem wolkenverhangenen Westen. »Ich glaube, daß es vielleicht doch etwas zu sehen gibt.«
»Was?« Sofort war der Prinz an der Seite des alten Rimmersmannes, den Körper unbequem über die Brüstung gebeugt, während er sich anstrengte zu erkennen, was der andere erblickt hatte. »Ist es Elias? So schnell? Ich sehe nichts!« In ohnmächtigem Zorn schlug er mit der flachen Hand auf den Stein.
»Ich zweifle, daß es der Hochkönig ist, der so weit von Westen herkommt«, meinte Jarnauga. »Wundert Euch nicht, daß Ihr nichts erkennt. Wie ich Euch sagte, hat man mich gelehrt zu sehen, wo andere nichts finden können. Trotzdem ist dort etwas, viele Pferde und Männer, die auf uns zukommen, wenn auch zu weit entfernt, als daß man schätzen könnte, wie groß ihre Zahl ist. Dort.« Er deutete.
»Gelobt sei Usires!« rief Josua erregt. »Du mußt recht haben. Es kann nur Leobardis sein.« Plötzlich lebendig geworden, richtete er sich gerade auf. Gleichzeitig jedoch umwölkte sich sein Gesicht. »Das ist eine kitzlige Angelegenheit«, meinte er halb zu sich selbst. »Die Nabbanai dürfen nicht zu nahe herankommen, sonst werden sie uns nichts nützen, weil sie dann zwischen Elias und den Mauern von Naglimund gefangen sind. Das würde bedeuten, daß wir sie hereinlassen und dann noch ein paar Mäuler mehr stopfen müßten.« Er schritt auf die Treppe zu. »Wenn sie sich aber in zu großer Entfernung halten, werden wir sie unsererseits nicht schützen können, wenn Elias gegen sie vorgeht. Wir müssen ihnen Reiter entgegenschicken!« Er sprang in großen Sätzen die Stufen hinab und rief dabei nach Deornoth und Eadgram, dem Obersten der Wachen von Naglimund.
»Ach, Strupp«, sagte Vara, die Wangen vom Wind und dem schnellen Ablauf der Ereignisse gerötet, »wir werden doch noch gerettet! Es wird noch alles gut.«
»Das wäre mir sehr recht, Herrin«, erwiderte der Narr. »Ich habe das alles schon früher mit meinem Herrn Johan erlebt … und ich bin auf eine Wiederholung nicht erpicht.«
Unten im Burghof begannen die Soldaten zu fluchen und zu rufen. Auf dem Rand des Brunnens stand Josua, das schlanke Schwert in der Hand, und rief seine Befehle. Speere klirrten auf Schilden, und Helme und Schwerter wurden rasch aus den Ecken geholt, wo sie aufgestapelt gelegen hatten; und der Klang von Metall auf Metall stieg von den Mauern auf wie eine Beschwörung.
Graf Aspitis Preves tauschte ein paar knappe Worte mit Benigaris und lenkte dann sein Pferd neben das des Herzogs, um im gleichen Schritt mit ihm durch das hohe, taunasse Gras zu reiten. Am grauen Horizont stand wie ein glänzender Klecks die erste Morgensonne.
»Ah, der junge Aspitis!« sagte Leobardis jovial. »Was gibt es Neues?« Wenn sich das Verhältnis zwischen ihm und seinem Sohn bessern sollte, mußte er versuchen, umgänglich mit Benigaris' engen Freunden zu sein – selbst zu Aspitis, den er für eines der weniger gelungenen Ergebnisse des prevanischen Hauses hielt.
»Die Kundschafter sind soeben zurückgekehrt, Herzog.« Der Graf, ein hübscher schlanker Junge, war ganz blaß. »Wir befinden uns weniger als fünf Meilen vor den Mauern von Naglimund, Herr.«
»Gut! Wenn wir Glück haben, können wir am frühen Nachmittag dort sein.«
»Aber Elias ist uns voraus.« Aspitis sah zu dem Herzogssohn hinüber, der den Kopf schüttelte und einen unterdrückten Fluch ausstieß.
»Hat er bereits mit seinem ganzen Heer die Belagerung begonnen?« fragte Leobardis überrascht. »Wie denn? Hat er seinen Truppen das Fliegen beigebracht?«
»Nun … nein, Herr. Nicht Elias selber«, verbesserte sich Aspitis eilig. »Es ist ein starker Trupp, der unter der Fahne von Eber und Speeren reitet – Graf Guthwulf von Utanyeats Banner. Sie stehen etwa eine halbe Meile vor uns und werden uns von den Mauern abhalten wollen.«
Der Herzog schüttelte erleichtert den Kopf. »Wieviel Leute hat Guthwulf?«
»Etwa hundert Berittene, Herr, aber der Hochkönig kann nicht weit hinter ihm sein.«
»Nun, das soll uns wenig kümmern«, antwortete Leobardis und zügelte am Ufer eines der vielen kleinen Flüßchen, die das Wiesenland östlich des Grünwate kreuz und quer durchzogen, sein Roß. »Soll doch die Hand des Königs mit ihrer Schar dort warten, bis sie schwarz wird. Wir nützen Josua mehr, wenn wir den Belagerern aus einiger Entfernung zusetzen und ihm die Versorgungslinien offenhalten.« Wasser spritzte auf, als er durch die Furt ritt. Sofort spornten Benigaris und der Graf ihre Pferde und folgten ihm.
»Aber Vater«, begann Benigaris, »überlegt doch! Unsere Kundschafter melden, Guthwulf sei dem Heer des Königs vorangeritten, und das mit nur hundert Rittern.« Aspitis Preves nickte bestätigend, und Benigaris zog mit bedenklichem Stirnrunzeln die dunklen Brauen zusammen. »Wir haben dreimal soviele Männer, und wenn wir ein paar schnelle Reiter zu Josua schicken, können wir auch seine Truppen mit einbeziehen. Wir würden Guthwulf vor den Mauern von Naglimund zerschmettern wie zwischen Hammer und Amboß.« Er grinste und klopfte seinem Vater auf die gepanzerte Schulter. »Bedenkt doch einmal, wie das König Elias schmecken würde – wäre es nicht ein gehöriger Denkzettel für ihn?«