Eine lange Minute ritt Leobardis schweigend weiter. Er drehte sich um und betrachtete die wogenden Banner seiner Legionen, die sich mehrere Achtelmeilen weit über die Wiesen verteilten. Die Sonne hatte gerade eine dünnere Stelle am dicht bewölkten Himmel gefunden und gab dem windgebeugten Gras Farbe. Es erinnerte ihn an das Seenland östlich seines Palastes.
»Ruft den Trompeter«, erklärte er, und Aspitis machte kehrt und schrie einen Befehl.
»Heja! Ich werde Reiter nach Naglimund schicken, Vater«, sagte Benigaris und lächelte, fast als wäre er erleichtert. Der Herzog sah, wie gierig nach Ruhm sein Sohn war, aber sein Ruhm würde auch Nabbans Ruhm sein.
»Nimm deine schnellsten Reiter, mein Sohn«, rief er Benigaris nach, der durch die Linien zurückritt. »Denn wir werden schneller vorrücken, als es sich irgend jemand träumen läßt!« Er hob die Stimme zu einem lauten Ruf, und überall auf dem weiten Feld drehten sich ihm die Köpfe zu. »Die Legionen sollen reiten! Für Nabban und Mutter Kirche! Wehe unseren Feinden!«
Wenig später war Benigaris wieder da und meldete, daß die Boten unterwegs seien. Herzog Leobardis ließ die Trompeten einmal und dann noch einmal erschallen, und das gewaltige Heer setzte sich im Geschwindschritt in Marsch. Hufschlag dröhnte und rollte wie schnelles Trommeln über die Wiesensenken, als sie den Inniscrich hinter sich ließen. Am trüben Morgenhimmel stieg die Sonne auf, und die Banner flatterten blau und golden. Der Eisvogel flog nach Naglimund.
Josua war noch nicht damit fertig, sich den schmucklosen, blankpolierten Helm überzustülpen, als er schon an der Spitze von vierzig Rittern zum Tor hinaustrabte. Der Harfner Sangfugol rannte neben ihm her und streckte ihm etwas entgegen; der Prinz zügelte sein Pferd und ließ es in Schritt fallen.
»Was hast du, Mann?« fragte er ungeduldig und ließ den suchenden Blick über den nebligen Horizont schweifen.
Der Harfner rang nach Atem. »Es ist … Eures Vaters Banner, Prinz Josua«, keuchte er und reichte es ihm hinauf. »Vom … Hochhorst mitgebracht. Ihr tragt … als einzige Standarte … den grauen Schwan von Naglimund – könntet Ihr Euch ein besseres Banner als Johans wünschen?«
Der Prinz starrte auf die rotweiße Fahne, die halb entrollt auf seinem Schoß lag. Grimmig blitzte das Auge des Feuerdrachen, als bedrohe ein Eindringling den heiligen Baum, um den er sich geringelt hatte. Deornoth, Isorn und ein paar andere Ritter neben ihnen lächelten erwartungsvoll.
»Nein«, sagte Josua und gab Sangfugol das Banner zurück. Seine Augen waren kalt. »Ich bin nicht mein Vater. Und ich bin kein König.«
Er wandte sich ab, schlang die Zügel um den rechten Arm und hob die Hand.
»Vorwärts!« rief er. »Wir reiten unseren Freunden und Verbündeten entgegen!«
Mit seiner Schar ritt er die steilen Straßen der Stadt hinab. Ein paar Blumen, von Menschen, die ihnen Glück wünschten, von den Burgmauern geworfen, flatterten auf den zerstampften, schlammigen Weg.
»Was siehst du, Rimmersmann?« fragte Strupp, tiefe Falten auf der Stirn. »Warum murmelst du so vor dich hin?«
Josuas kleine Schar war nur noch ein Farbfleck, der rasch in der Weite verschwand.
»Vom Rand der südlichen Berge kommt ein Reitertrupp«, erklärte Jarnauga. »Von hier aus sieht es nicht nach einem großen Heer aus, aber sie sind noch sehr weit weg.« Er schloß sekundenlang die Augen, als wollte er sich an etwas erinnern und schlug sie dann wieder auf, um in die Ferne zu starren.
Strupp machte instinktiv das Zeichen des Baumes. Die Augen des alten Rimmersmannes waren so hell und leuchteten so wild wie Lampen aus Saphir.
»Ein Eberkopf zwischen gekreuzten Speeren«, zischte Jarnauga, »wer trägt das?«
»Guthwulf«, antwortete Strupp verwirrt. Nach allem, was der alte Narr am Horizont erkennen konnte, hätte Jarnauga ebensogut Gespenstern zuschauen können. »Der Graf von Utanyeat – die königliche Hand.«
Ein Stück weiter auf der Mauer sah die Herrin Vara sehnsüchtig der immer kleiner werdenden Reiterschar des Prinzen nach.
»Dann kommt er von Süden herauf, vor Elias' Hauptmacht. Es sieht aus, als hätte Leobardis ihn bemerkt; die Nabbanai schwenken nach den Südbergen um, als wollten sie ihn zum Kampf herausfordern.«
»Wieviele … wieviele Männer?« fragte Strupp, der allmählich ganz und gar den Überblick verlor. »Wie kannst du das überhaupt alles erkennen? Ich sehe gar nichts, und dabei ist doch mein Augenlicht das einzige, das –«
»Hundert Ritter, vielleicht auch weniger«, unterbrach ihn Jarnauga. »Das ist das Besorgniserregende: Warum so wenige?«
»Barmherziger Gott! Was hat der Herzog vor?« fluchte Josua und hob sich in den Bügeln, um besser Umschau halten zu können. »Er ist nach Osten umgeschwenkt und hält in vollem Galopp auf die Südberge zu. Hat er den Verstand verloren?«
»Seht doch, Herr!« rief Deornoth zu ihm hinüber. »Seht dort, am Saum des Stierrückenberges!«
»Bei der Liebe Ädons, es ist das Heer des Königs! Was tut Leobardis? Glaubt er, er könne Elias allein angreifen?« Josua gab seinem Pferd einen Schlag auf den Hals und spornte es vorwärts.
»Es sieht aus, als wäre es nur eine kleine Schar, Prinz Josua«, rief Deornoth. »Vielleicht die Vorhut.«
»Warum hat er nur keine Reiter zu uns geschickt?« fragte Josua klagend. »Seht nur, sie werden versuchen, sie nach Naglimund zu treiben, um sie dort vor der Mauer in die Falle zu locken. Warum um Gotteswillen hat Leobardis mir keine Boten gesandt?« Er seufzte und wandte sich Isorn zu, der sich den Bärenhelm seines Vaters von der Stirn geschoben hatte, um den Horizont besser überblicken zu können. »Jetzt werden wir doch noch zeigen müssen, ob wir Mut haben, Freund.«
Die Unvermeidlichkeit des Kampfes schien Gelassenheit über Josua zu legen wie einen Mantel. Seine Augen waren ruhig und auf den Lippen stand ein wunderliches, halbes Lächeln. Isorn grinste zu Deornoth hinüber, der seinen Schild vom Sattelknauf löste, und schaute dann wieder den Prinzen an.
»Zeigen wir es ihnen, Herr«, sagte der Herzogssohn.
»Reitet!« schrie der Prinz. »Vor uns steht der Räuber von Utanyeat. Reitet!« Damit spornte er sein scheckiges Schlachtroß zum Galopp, daß der Boden unter den Hufen aufspritzte.
»Für Naglimund!« rief Deornoth und riß das Schwert hoch. »Für Naglimund und unseren Prinzen!«
»Guthwulf hält stand«, berichtete Jarnauga. »Er hält am Berg und läßt die Nabbanai auf sich zukommen. Josua reitet ihnen jetzt entgegen.«
»Kämpfen sie?« erkundigte Vara sich ängstlich. »Was ist mit dem Prinzen?«
»Er hat den Kampfplatz noch nicht erreicht – aber dort!« Jarnauga lief auf der Mauer entlang bis zum kleinen Südwestturm. »Jetzt treffen Guthwulfs Ritter auf den ersten Angriff der Nabbanai. Alles geht durcheinander!« Er kniff die Augen zusammen und rieb sie mit den Knöcheln.
»Was? Was!?« Strupp steckte den Finger in den Mund und nagte mit aufgerissenen Augen daran herum. »Verlier jetzt deine Stimme nicht, Rimmersmann!«
»Es ist schwer, aus dieser Entfernung zu erkennen, was dort vor sich geht«, erläuterte Jarnauga unnötigerweise, denn weder seine beiden Begleiter noch sonst jemand auf den Burgmauern konnte mehr als die schwache Andeutung einer Bewegung im Schatten des in Dunst gehüllten Stierrückenberges ausmachen. »Der Prinz greift in den Kampf ein. Leobardis' und Guthwulfs Ritter sind über den ganzen Berg verstreut. Jetzt … jetzt…«
Er verstummte und konzentrierte sich.